Liebe SEAlosophinnen, liebe SEAlosophen,
die nächste reguläre Ausgabe dieses Newsletters kommt eigentlich erst in einer Woche. Aber es gab da ein paar Entwicklungen in den vergangenen Tagen, die ich nicht unkommentiert lassen will. Dafür gibt’s jetzt die neue Rubrik SEAlosofix.
Und in der möchte ich mich, während in der WG über meiner Wohnung den Geräuschen nach gerade wieder einmal in mehreren Zimmern kurz hintereinander den Studis die (Bett-)Decke auf den Kopf fällt, den Ergüssen Russell Wilsons widmen.
Der Quarterback der Seattle Seahawks hat sich öffentlich zum Thema Pass Protection geäußert. Oder sagen wir es anders: Er hat sein Gesicht in den Tagen um Super Bowl LV in jede verfügbare Kamera gehalten, um sich über die vielen Hits zu beschweren, die er Jahr für Jahr kassiert. Die Kurzfassung von dem, was Wilson bei drei verschiedenen Anlässen sagte:
Auf die gesonderte Frage, ob er frustriert von den Seahawks sei, antwortete Wilson:
“I'm frustrated with getting hit too much. I'm frustrated with that part of it, you know?”
Warum ich finde, dass diese PR-Tour – nein, das war kein aus der Emotion heraus spontan gesagter Satz Wilsons – ein Gschmäckle hat:
1) Narrativ kontrollieren
Was wir hier verfolgen können ist, wie der Anführer eines Teams versucht, das Narrativ zu kontrollieren.
Eins sei direkt zu Beginn gesagt: Russell Wilson hat jedes Recht, sich über schlechte Protection aufzuregen. Die Offensive Line der Seahawks war selten mehr als Durchschnitt, seit er in Seattle spielt.
Aber: Der Zeitpunkt ist fragwürdig, denn zum einen beschützte die nun kritisierte O-Line den Quarterback in der abgelaufenen Saison besser als in den Jahren zuvor und zum anderen spielte Wilson eine schwache zweite Saisonhälfte. Jetzt lenkt er von seinen Fehlern (in Sacks hineinrennen, Ball zu lange fest halten, offene Receiver übersehen) ab. Warum beschwerte er sich nicht schon vor Jahren, als er noch bessere Gründe dafür hatte?
Aber: Verantwortlich für die Hits gegen den Quarterback ist nicht nur die O-Line, sondern auch der Spielmacher selbst (neben Spielzug, Wide Receiver, Tight End etc.). Zu welchem Maß Wilson selbst an Sacks oder Hits schuld ist, daran scheiden sich die Geister. Das ist aber auch nicht so wichtig.
Aber: Dass er die Fehler zuerst an anderer Stelle sucht, sich selbst nur beiläufig in Nebensätzen in die Verantwortung nimmt und sein Verhalten mit der verbissenen Jagd nach explosiven Plays rechtfertigt, zeugt von wenig Accountability.
Die Art und Weise, wie nun Wilson die O-Line – eines von mehreren Problemen der Seahawks in der zweiten Saisonhälfte, aber nicht das größte – öffentlich in den Mittelpunkt der Debatten drückt, ist schwierig.
2) How much is the Teamchemie?
Was denken sich wohl Duane Brown, Brandon Shell und Damien Lewis, wenn sie diese Aussagen hören (Mike Iupati und Ethan Pocic werden Free Agents)? Die drei O-Liner waren Lichtblicke in der Saison 2020 und werden jetzt von ihrem Quarterback samt Weihnachtsgeschenk-Scooter vor den Bus geworfen. Der Chemie – mit allen drei Spielern wird Wilson auch 2021 arbeiten – wird das schaden.
Am Dienstagabend sagte Seahawks-O-Line-Legende Walter Jones im Radio, dass man solche Diskussionen besser nicht an die Öffentlichkeit tragen solle. Wilson wählte aber genau diesen Weg, um das Front Office unter Druck zu setzen (wie er es vor einem Jahr mit der Forderung nach neuen Waffen und mehr Verantwortung getan hatte).
Brown, der während der Saison Woche für Woche mit Wilsons wilder Spielweise (die den Seahawks natürlich auch schon viele Punkte geholt hat) zurechtkommen muss, wird sich fragen, ob er im falschen Film ist. Als nächstes sollte er dann bei Wilson echte Loyalität einfordern und keine, die sich nur in Form von elektrisierten Scootern und anderen Geschenken darstellt.
3) Wilsons Wille
Der Zeitpunkt der Wilson-Aussagen ist aus einem weiteren Grund fragwürdig. Er hat gerade einen neuen Offensive Coordinator zur Seite gestellt bekommen, der seinen Wünschen wohl entspricht. Mag man den übereinstimmenden Medienberichten glauben, dann hatte Wilson bei der Auswahl ein Mitspracherecht (wie 2020 offenbar bei Tight End Greg Olsen) und legte zuvor bei mehreren Kandidaten sein Veto ein.
Keine zwei Wochen später aber stellt er sich nun vor Kameras, um zu nörgeln, Trade-Gerüchte nicht entschieden zu dementieren und mehrdeutige Aussagen zu treffen. Man fängt an sich zu fragen, was er denn eigentlich wirklich will?
Wir wissen inzwischen, wie vorsichtig Wilson ist, wenn es um sein Vermächtnis geht. Wir haben gesehen, wie er beim Super Bowl zwischen NFL-Chef Roger Goodell und seiner Frau Ciara sitzend die muntere Jagd auf Patrick Mahomes verfolgte und das wohl etwas in ihm auslöste. Wir erleben einen Wilson, der seine Karriere-Uhr ticken hört und deswegen jetzt die eigenen Interessen auf Kosten des Teamfriedens in den Vordergrund rückt.
“Protect the team” ist eines der Mantras von Head Coach Pete Carroll. Wilson bewegte sich in den vergangenen Tagen hart an der Grenze zum Verstoß gegen dieses. Wir wissen spätestens seit den Post-Super-Bowl-XLIX-Jahren: Das Spannungsverhältnis zwischen eigenen Interessen, Teaminteressen, Teamchemie und Erfolg ist ein heikles.
4) Sanfter Abschied?
Glaubt man dem ehemaligen Teamkameraden Brandon Marshall, ist Wilson zutiefst frustriert über die Situation bei seiner Franchise (und wohl auch verärgert über die Entlassung Brian Schottenheimers) und sucht einen halbwegs eleganten Weg aus Seattle hinaus. Das ist die gewagte These eines Mannes, der gerade im Medienbusiness durchstarten will.
Auch wenn dieses Segment einige faktische Böcke enthält (Anzahl der verpflichteten O-Liner, Offensiv-Philosophie), so darf man sich doch fragen, wie intakt das Verhältnis zwischen Pete Carroll und seinem Quarterback noch ist – und ob Shane Waldron der Klebstoff ist, der es kitten kann.
Dass Wilson die Seahawks 2021 per Trade verlässt, ist und bleibt dennoch unwahrscheinlich. Die Verantwortlichen in Seattle schoben den Verhandlungen wohl direkt einen Riegel vor. Und wenn man dem Spielmacher zuhört, klingt es auch nicht so, als ob er weggehen wolle aus dem Pacific Northwest.
Wäre tatsächlich eine versteckte Trade-Forderung an Wilsons Aussagen geknüpft, dann wäre das ziemlich inkonsequent. Bei einem sich im Neuaufbau befindlichen Team, das das Kapital für einen derartigen Tausch hätte, wäre Wilson kaum besser beschützt als bei den Seahawks. Das kann nicht sein Ziel sein.
Halten wir deshalb fest: Der Super Bowl ist gerade mal drei Tage her. Die Offseason nimmt Fahrt auf und mit ihr die Gerüchteküche. Dass Wilson in seinem aktuellen Frust wenig unternimmt, das Köcheln zu unterbinden, ist irgendwo nachvollziehbar.
5) Vom Einfordern und Einstecken
Russell Wilson ist die Galionsfigur der Seattle Seahawks. Er ist Großverdiener, Captain, Spielmacher, Lautsprecher und Anführer. Natürlich bekommt er einen Großteil der Lorbeeren ab, wenn sein Team gut spielt. Ab Mitte der Saison 2020 tat es das aber nicht mehr. Ich bin die letzte Person, die von ihm nun Abstriche beim Gehalt fordert. Die Seahawks sind verantwortlich für die Summe, die sie ihm bezahlen.
Aber niemand darf sich wundern, warum Wilson aktuell mehr Kritik entgegen fliegt als sonst. Er forderte mehr Verantwortung. Er bekam sie. Jetzt muss er sie auch übernehmen und nicht primär auf andere Spieler abwälzen.
Abschließend noch einmal: Es gibt nicht den einen Grund, warum der Spielmacher zu viel Haue von gegnerischen Quarterback-Jägern abbekommt. Hier verstärken sich mehrere Zipperlein gegenseitig zu einer großen Problemstelle. Wilson muss besser spielen. Die O-Line muss besser spielen. Spielzüge müssen ihm den Druck nehmen. Und Pete Carroll und John Schneider müssen besseres Personal für die Angriffslinie ranschaffen.
Dass die Seahawks in den vergangenen Jahren nicht in die O-Line investierten, ist übrigens ein Märchen. Sie waren bloß abgesehen von Damien Lewis und Duane Brown – kulant ausgedrückt – nicht sonderlich erfolgreich. Aber das ist ein Thema für eine reguläre Newsletter-Ausgabe in der Offseason.
SEAlosophische Grüße
Max