Liebe SEAlosophinnen, liebe SEAlosophen,
ihr habt vielleicht im Newsletter der vergangenen Woche bemerkt, dass ich mit dem Herbstanfang und dem Beginn der College-Football- und NFL-Saison ein wenig melancholisch werde. Ich denke zu dieser Jahreszeit oft an 2013 zurück, als ich ein Auslandssemester an der Westküste der USA verbrachte.
Der 2. Spieltag der NFL-Saison lässt mein Fernweh nicht gerade kleiner werden, muss ich gestehen. Endlich dürfen die Seattle Seahawks zu Hause wieder vor ausverkaufter Kulisse im Lumen Field ran (ein mulmiges Gefühl bezüglich Corona bleibt) . Endlich wieder ein Heimspiel in der Emerald City. Endlich wieder Lärm, unangenehmes Wetter und die 12s als Zünglein an der Waage. Ich wäre verdammt gerne vor Ort dabei – so wie ich vor acht Jahren mein erstes Seahawks-Spiel im CenturyLink Field besuchte. Heute wie damals der Gegner: die Tennessee Titans.
Seit dem damaligen Aufeinandertreffen in Week 6 der Regular Season 2013 gastierten die Titans nicht mehr in Seattle. Ich möchte in dieser kurzen SEAlosofix-Ausgabe deshalb die damalige Partie ein bisschen Revue passieren lassen – und dabei sowohl Drumherum als auch Spiel beleuchten. Wer keine Lust auf persönliche Anekdoten hat, springt am besten direkt zur zweiten Zwischenüberschrift.
Chuck, Ian und der fehlende orangene Aufkleber
2013 war ich im Rahmen des sogenannten “Motherland”-Treffens in Seattle dabei. Gemeinsam mit vielen anderen Mitgliedern der Sea Hawkers aus aller Welt bekam ich das volle Programm. Barbesuch am Abend vor dem Spiel (danke an den Barkeeper, der mir einfach so das Bierglas mit dem Seahawks-Aufdruck schenkte), Tailgating am nächsten Morgen, Zugang zum Spielfeld vor Kickoff. Zu Letzterem später mehr, jetzt zunächst zum Tailgating.
Wir standen mit vielen Fans auf einem kleinen Parkplatz zwischen zwei Lagerhallen direkt vor dem Stadion. Große freie Flächen gibt’s rund um die Spielstätte der Seahawks nicht wirklich. Ein paar einheimische 12s hatten dem Smoker fürs Barbecue angeworfen, Mac’n’Cheese vorbereitet und Bier kaltgestellt. Für die echte Experience griff ich – der gerade 21 Jahre alte und damit in den USA legale Alkoholkonsument – natürlich direkt zum Bud Light, als ich bemerkte, wie mich ein fast dreimal so alter Mann mit weiß-grauen Haaren und gleichfarbigem Bart etwas krumm anschaute. Ich zögerte, hielt mich davon ab, die Bierdose zu öffnen und wusste nicht so recht, was ich falsch gemacht hatte. Der Mann kam auf mich zu – und schnell stellte sich heraus, dass er mich einfach für zu jung zum Alkohol trinken gehalten hatte. Aus diesem Missverständnis, das ich auf mein immer noch sooo jugendliches Aussehen schiebe, entwickelte sich ein Gespräch. Ich erfuhr, dass der Mann Chuck McGowan heißt und bei Heimspielen von seinem Sitzplatz aus alle Spielzüge filmt und auf der Seahawks-Website veröffentlicht. 12th Fan View nannte sich das – inzwischen gibt es die Serie nicht mehr. Chuck lebte damals in Bremerton und kam mit der Fähre zum Spiel. Seine Videos begannen meist auf dem Wasser mit einer kurzen Einschätzung zum Gegner und zur Form der Seahawks. Dann folgte das klassische “Let’s go to the game!”, für das er unter Fans bekannt wurde. Diesen Satz durfte ich mit ihm auf Deutsch für sein neues Video einsprechen: “Lasst uns zum Spiel gehen!”
Ebenfalls bei “Motherland” am Start als einer der Mitorganisatoren: Ian Robert Smith (siehe Foto), zu dieser Zeit Präsident der UK Sea Hawkers. In meinem neuen Seahawks-Buch habe ich ein paar Sätze dazu aufgeschrieben, wie ich Ian in London kennengelernt habe und wie wichtig er für die deutsche Fanszene war. In Seattle verfolgten wir damals das Spiel gegen die Titans nebeneinander im Stadion. Wir sahen uns an diesem Wochenende zum zweiten Mal überhaupt. Leider auch zum letzten Mal, denn Ian verstarb am 3. Januar 2016 im Alter von 48 Jahren, nachdem er an Heiligabend einen schweren Schlaganfall erlitten hatte.
Ian war es auch gewesen, der damals einen Field Pass für mich klarmachte. Mitglieder der Seahawks haben die Möglichkeit, in einer kleinen Gruppe vor Kickoff im Stadion aufs Feld zu gehen und den Spielern beim Warmmachen zuzuschauen. Ich sollte genau eine Stunde vor Spielbeginn am Treffpunkt sein, um meinen orangenen Field-Pass-Aufkleber zu erhalten und durch die Katakomben in den Innenraum geführt zu werden. Da stand ich also am vereinbarten Ort, eine Stunde vor Kickoff – so zumindest will ich es in Erinnerung haben –, doch weit und breit niemand, der mir mit meinem Field Pass weiterhelfen konnte. In meiner Verzweiflung fragte ich mich von Infostand zu Infostand durch, von Ordnerin zu Ordner weiter, bis ich plötzlich vor einem Eisentor direkt stand, durch das hindurch ich das Spielfeld sehen konnte. Ich weiß nicht mehr genau, wie oder warum ich da durchkam, aber plötzlich lief ich durch den Tunnel aufs Spielfeld, grüßte nebenher noch zwei Schiedsrichter, machte ein Foto mit ihnen und beobachtete dann das Warm-up von der Seitenlinie. Pete Carroll begrüßte kaugummikauend einen gegnerischen Trainer, Marshawn Lynch umarmte Running-Back-Kollege Chris Johnson, Richard Sherman und Michael Bennett scherzten beim Dehnen. Meine Begeisterung war so groß, dass ich ganz vergaß, dass ich eigentlich illegal auf dem Feld war. Ein Ordner erkannte das aber blöderweise am fehlenden Sticker auf meiner Brust und verfrachtete mich nach ein paar Minuten ins Stadiongefängnis… nein, quatsch, einfach nur zurück in die Katakomben. Und dort gab mir ein Fanbetreuer aus Mitleid dann doch noch einen Sticker, damit ich bei meinem zweiten Besuch auf dem Kunstrasen etwas länger durchhalten konnte.
Hausch, Beast und Fitz
Drei Szenen oder Personen sind mir vom letzten Heimspiel der Seahawks gegen die Titans noch besonders gut in Erinnerung:
Seahawks-Kicker Stephen Hauschka versuchte es beim Kickoff nach dem Touchdown von Marshawn Lynch zum 7:3 nicht nur mit einem weiten Schuss, sondern auch mit einem Tackle. Titans-Returner Darius Reynaud fand eine Lücke, die Hauschka schließen wollte. Doch mangels Tackling-Skills stellte er sich dem Ballträger recht hilflos in den Weg und wurde am Ende einfach nur zum Crashtest-Dummy.
#Seahawks K Steven Hauschka gets hit hard by #TennesseeTitans returner in 1stHalf @SeaTimesSports Titans lead 10-7Während Hauschka noch zur Behandlung in der Kabine war, spielte sich kurz vor der Halbzeitpause Slapstick vom Feinsten im CenturyLink Field ab. Punter Jon Ryan sollte kurzzeitig die Kicks übernehmen. Er trat zum Field-Goal-Versuch an, Chris Maragos übernahm als Holder – oder versuchte es. Der Kick kam nie zustande, weil Maragos den Ball nicht unter Kontrolle brachte. Ende der Geschichte: Jason McCourty trug das Spielgerät zum Touchdown zurück in die Endzone. Die Titans gingen mit einer 10:7-Führung in die Pause. (Seattle gewann am Ende mit 20:13.)
Der Fairness halber sei erwähnt, dass Lynch in der ersten Halbzeit bei 4th & 1 und in der zweiten bei 1st & 3 von kurz vor der Endzone aus erfolgreich den Weg in den farbigen Bereich fand.
Wisst ihr, wer damals Quarterback der Titans war? Genau, Ryan Fitzpatrick! Für den Spielmacher war Tennessee die vierte Station als Profi nach den St. Louis Rams, Cincinnati Bengals und Buffalo Bills – und nicht die letzte, wie wir heute wissen. Inzwischen ist Fitzpatrick bei seiner neunten NFL-Franchise, dem Washington Football Team, angekommen. Heute ist er als Fitzmagic fast schon eine Social-Media-Sensation. Damals, 2013 in Seattle, warf er als Fitztragic zwei Interceptions, eine zu Earl Thomas, eine zu Richard Sherman. Offenbar wusste er damals noch nicht, dass man Richtung Sherman keinen tiefen Pass auf die rechte Seite wirft. Aber gut, da war er nicht alleine.
Und jetzt: Lasst uns zum Spiel gehen!
SEAlosophische Grüße
Max