SEAlosophie für Einordnende (6)
Über die Trainersuche bei den Seattle Seahawks und die unliebsame Frage, was der Handball vom Football lernen kann.
Liebe SEAlosophinnen, liebe SEAlosophen,
ich gebe es jetzt einfach zu: Seit Super Bowl XLIX habe ich nur noch ein einziges Endspiel der NFL (“Philly Special”) live und in voller Länge gesehen – und das auch nur aus beruflichen Gründen. 2021 habe ich nur zwei Footballspiele von Anfang bis Ende geschaut – Week 17 mit den Seattle Seahawks und die Wild-Card Round eine Woche später, auch mit den Seattle Seahawks.
Warum denn das? Es hat mich einfach nicht gereizt, mich für dreieinhalb Stunden vor den Fernseher zu klemmen und ungeduldig auf das Ende der nächsten Werbepause zu warten, während ich weder twittere noch einen Spielbericht schreibe. Natürlich könnte ich das tun, aber warum sollte ich, wenn ich nicht arbeiten muss oder es mein Hobby, die Seahawks, betrifft?
Bei Seattles Spielen verpasse ich nach der Werbeunterbrechung in der Regel den ersten Lauf von Chris Carson oder das erste verpasste Tackling von Shaquill Griffin, weil ich auf einen Second Screen starre oder vermeintlich smarte Gedanken in meine Tastatur tippe. Bei anderen Partien schaue ich Patrick Mahomes und Baker Mayfield öfter dabei zu, wie sie für Versicherungen werben, als dass ich sie Pässe werfen sehe.
Bevor das hier in eine TV-Kritik ausartet, legen wir lieber los mit der sechsten Ausgabe von SEAlosophie.
I. Narrative
Bewegt man sich in diesen Tagen auf Twitter, wo ein nicht unwesentlicher Teil der Football-Community unterwegs zu sein scheint, dann könnte man meinen, für Seahawks-Cheftrainer Pete Carroll bestehe das Spiel nur aus Läufen, Läufen und noch mehr Läufen.
Mit der Realität hat das aber wenig zu tun.
Twitter verkürzt. In 280 Zeichen lässt sich eine Argumentation nicht vollständig unterbringen. Ja, Screenshots von Texten oder Threads sind ein Ausweg, aber nicht alle wollen sich diese Mühe machen. Twitter ist damit reizvoll und gefährlich zugleich. Reizvoll, weil es zum Trend der Zeit passt, alles nebenher zu machen. Mal kurz neben dem Football schauen schnelle Informationen snacken. Mal kurz polarisieren oder provozieren (ich nehme mich da nicht aus). Mal kurz ein Zitat einordnen. Und genau da wird es gefährlich.
Als Pete Carroll vor einigen Tagen bei seiner Saisonabschluss-Pressekonferenz mehrfach betonte, er wolle den Ball wieder mehr laufen (um seine Offensive zu reparieren). Das löste auf den einschlägigen Analytics-Kanälen natürlich Empörung, Hohn, Spott und Zynismus aus. Kurz gesagt: Alle droschen für diese Aussage auf Carroll ein, obwohl der danach noch viel mehr übers Laufspiel sagte, für das man ihn nicht direkt verbal vermöbeln muss:
“Let me make sure I don’t overdo this with the running more thing. We need to run more with focus and direction and count on it a little bit differently than we did. It ain’t gonna be 50 runs a game. We’re not doing that. I don’t want to do that. I want to explode with the throwing game. But we need to dictate the way we’re being played better and see if we can do that.”
Es geht mir an dieser Stelle nicht darum, Carroll oder seine Philosophie zu verteidigen. Seine Aussagen sind sowieso immer mit Vorsicht zu genießen, weil sie sich dann oft nicht in der Realität wiederfinden. Ich möchte lediglich aufzeigen, dass es sich viele Fans und auch einige Journalistinnen und Journalisten hier zu einfach machen, den Trainer in die bereits weit geöffnete “Laufen um des Laufens Willen”-Schublade zu stecken.
Die Seahawks-Offensive war 2020 eine der passlastigsten der NFL. Dass Carroll nun zu einem weniger aufs Passspiel fokussierten Ansatz, zu mehr kontrolliertem Laufspiel zurückkehren will – so vage ist das nämlich von ihm auch formuliert –, ist nicht wirklich überraschend, denn viel mehr Early Down Passing geht fast nicht (siehe Tabelle unten). Und es ist auch nicht so verwerflich (wie von vielen dargestellt), wenn man den multifaktoriellen Sturzflug des Seahawks-Passspiels ab Woche 10 berücksichtigt.
Viele Twitternde aber bedienen oder verstärken hier durch Verkürzung und ein aus dem Zusammenhang gerissenes Zitat ein Narrativ.
Dieses Phänomen der Narrative lässt sich in diesen Tagen auch an anderer Stelle gut beobachten: bei der Suche der Seahawks nach einem neuen Coach. In Seattle ist der Posten des Offensive Coordinators noch unbesetzt.
Wir alle wünschen uns den perfekten Trainer für die Seahawks. Aber den gibt es nicht – und schon garnicht ist er auf dem Markt.
Als Kandidaten zuletzt gehandelt: Anthony Lynn, Doug Pederson, Tony Elliott, Mike Kafka und Adam Gase. Kafka – so gerne ich hier einen schlechten Wortwitz über “Process > Outcome” in Bezug auf Fourth-Down Conversions gemacht hätte – bleibt wohl bei den Kansas City Chiefs und wird dort Nachfolger von Eric Bieniemy als Offensive Coordinator. Nehmen wir deshalb mal Gase zur Hand.
Natürlich war das Drama auf Twitter riesig, als sein Name in Verbindung mit den Seahawks aufploppte. Warum würde Carroll diesen Misserfolgstrainer einstellen wollen? Wahrscheinlich, weil er genauso laufverliebt ist. Ha!
Ich möchte hier nicht den Fürsprecher eines wenig erfolgreichen NFL-Trainers spielen. Aber er sollte im Fall der Verpflichtung trotzdem eine faire Chance bekommen. Denn auch bei ihm besteht die Möglichkeit, dass er uns wie Brian Schottenheimer überrascht.
Gase arbeitete bei den New York Jets und den Miami Dolphins nie mit viel Talent – und das sah man an den Resultaten. Gase arbeitete bei den Denver Broncos mit Peyton Manning – und coachte ihn zur besten Saison seiner Karriere (mit aus Seahawks-Sicht traumhaftem Ende im MetLife Stadium). Schlechte Teams sind keine Entschuldigung dafür, nichts auf die Reihe zu bekommen. Aber ein elitärer Quarterback ist auch nicht der alleinige Grund, warum 2013 bei den Broncos offensiv vieles herausragend lief.
Deshalb darf man sich die Frage stellen, ob Gase nicht auch den Russell Wilson auf ein neues Level heben könnte, den zuvor Schottenheimer zum besten Tiefpasser der Liga gemacht hat.
Ich werde dem neuen Offensive Coordinator der Seahawks Zeit geben, bevor ich mein persönliches Urteil fälle. So wie ich jedem Rookie Zeit gebe, bevor ich mir eine Meinung zum Draft bilde. In beiden Bereichen spielt trotz allem Scouting das Glück eine nicht zu vernachlässigende Rolle.
Die Realität – Achtung, Verkürzung – ist, dass Erfolg der Seahawks-Offensive bei oberflächlicher Betrachtung immer primär Russell Wilson zugeschrieben werden wird, solange er für sie spielt. Und Misserfolg wird hauptsächlich auf die Coaches zurückfallen (besonders wenn am Quarterback ein teures Preisschild hängt).
Vergangene Woche schrieb ich im Newsletter, dass es vermutlich egal ist, wer Offensive Coordinator bei den Seahawks wird, denn Pete Carroll gibt sowieso den Ton an. Diese Aussage mag nicht falsch sein, aber irgendwie lag ich damit trotzdem nicht richtig. Denn es ist nicht egal, wer OC wird. Sollte der Neue dem stark auf sein Vermächtnis fokussierten Spielmacher Russell Wilson nicht ins Konzept passen, ist das vielleicht der Anfang vom Ende einer Ära in Seattle.
Das ist am Ende wohl das, was bei der Suche zählt. Falls der Umbruch nicht bereits morgen beginnen soll.
II. Hand-Footballer
Wer ernsthaft darauf gehofft hatte, dass ich hier jetzt pünktlich zur Handball-WM die (nervige und in der jüngeren Vergangenheit oft auf Fußball angewandte) Frage aus dem Teaser beantworte, wird gleich enttäuscht sein. Eigentlich wollte ich einfach nur Jay Cutler, den ehemaligen Spielmacher der Chicago Bears, roasten. Denn der sagte einmal:
“I do wanna get a team together for the Olympics. They have, I think it’s handball, but it’s basically a little ball that you throw around and then throw into a goal. So it’s like soccer, indoor soccer with a ball that you throw. There is a US team but I wanna go and do that. Just throwing missiles. […] I’d guarantee that we could put a team together and win gold. Guarantee.”
Vielleicht wäre Handball wirklich ein Sport für Jay Cutler, denn schließlich ist es bei dieser Sportart sinnvoll, nicht auf Menschen zu zielen, sondern an ihnen vorbei. Das konnte der ehemalige Quarterback zu NFL-Zeiten bekanntlich recht gut.
Nun sind die USA aber leider wegen Covid-19 bei der aktuell in Ägypten stattfindenden Weltmeisterschaft nicht dabei – und sollten vielleicht froh darüber sein, weil die Bubble dort offensichtlich nicht so toll funktioniert wie 2020 in der NBA.
Primär sollten sie aber froh über die Nicht-Teilnahme sein, weil sie sich sonst zur großen Überraschung Cutlers wohl einfach nur bis auf die Knochen blamiert hätten. “Team Handball”, wie es im Land des Footballs heißt, ist absolute Randsportart in den USA. Ich sage das nicht bloß so dahin.
2015 arbeitete ich als Young Reporter bei der Summer Universiade in Gwangju, Südkorea. Die Universiade (Wortkombination aus Universität und Olympiade; ja, Logikfehler) ist das größte Multisportevent ausschließlich für Studierende. Dort war Handball damals eine der Mannschaftssportarten – und die USA stellten ein Team. Da ich selbst Handballer bin, wollte ich mir den Besuch bei einem Spiel natürlich nicht entgehen lassen.
Wenn ich nun großmaulig behaupte, dass ich als semi-talentierter Amateursportler abgesehen von der Nationalität eine prägende Rolle im Team der US-Amerikaner hätte spielen können, spricht das nicht gerade für Team USA. Vielleicht fehlten aber auch einfach nur die Handball-Granaten Patrick Mahomes, LeBron James und eben Cutler zum ganz großen Wurf.
“We’re a little inexperienced but we do it for fun. It’s a blast. The score might not be what we want it to be but still it’s an amazing opportunity for us to get better. And it is fun to watch how good these other teams are. I’ve seen moves out here that I’ve never seen before besides on YouTube.”
Das erzählte mir einer der Spieler damals und klang damit viel bodenständiger als Kollege Cutler. Vielleicht, weil sechs Niederlagen in sechs Spielen eine gewisse Erdung mit sich brachten.
Die Universiade endete für Team USA übrigens mit Platz 13 von 13. Trainer und CEO Michael Cavanaugh störte das nicht. Er sagte über die Mission seines Teams:
“We’re sending a signal: USA is trying.”
Der Link der Woche
Dass Adam Gase Trainer eines gewissen Peyton Mannings war, liegt nun einige Jahre zurück. Inzwischen ist der Quarterback im Ruhestand – und vielleicht selbst offen für einen Wechsel an die Seitenlinie? Pete Carroll sollte mal bei Manning durchklingeln. Am besten, bevor er ins Flugzeug steigt. Vielleicht bekommt er im zweiten Anlauf dann keinen Korb mehr:
Eigentlich will ich nicht immer kostenpflichtige Texte hier verlinken, aber dieser von The Athletic ist einfach zu gut (und guter Journalismus darf etwas kosten): die Nacherzählung von Peyton Mannings Free-Agency-Tour im Jahr 2012 – inklusive Carroll-Cameo. Ich habe immer noch Gäste-Pässe für 30 Tage Gratis-Zugang, falls jemand mehr als nur den obigen Ausschnitt lesen mag. Meldet euch gerne!
Das Two-Minute Warning
Was macht eigentlich… Jamal Adams?
Er hat ja jetzt Zeit. Deshalb nimmt er, wie es sich für ein braves CDU-Mitglied gehört, am digitalen Parteitag teil – und zeigt dann eine ganz neue Seite von sich. Nur für den Internet-Crashkurs vor der Live-Schalte hat es wohl nicht mehr gereicht…
Wer hat das gesagt?
“See y’all in Cabo!”
Auflösung vom 13.01.2021: Head Coach Pete Carroll sagte bei seiner Saisonabschluss-Pressekonferenz, dass er davon ausgehe, dass alle Trainer 2021 wieder zurückkehren würden. Wenig später trennten sich die Seahawks von ihrem Offensive Coordinator Brian Schottenheimer.
Edda, hast du das Playoff-Aus der Seahawks inzwischen verarbeitet?
Ich hoffe, ihr habt den kurzen Ausflug in eine andere Sportart gut verkraftet. Mir jedenfalls versüßt der Handball aktuell die Seahawks-freien Playoffs. Ob mit der Sportart, die eigentlich nicht Football heißen sollte oder mit der, die mit ihrem Namen tatsächlich akkurat beschreibt, was sie ist – ich wünsche euch eine gute Woche!
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SEAlosophische Grüße
Max