SEAlosophie für Greenkeeper (1)
Über einen Football-Acker, den Sacksiest Defensive Back Alive und eine Maske des Kwakwaka’wakw-Stammes.
Liebe SEAlosophinnen, liebe SEAlosophen,
ist hoffentlich okay, dass ich euch so anspreche. Denn genau das sind wir ja, die wir uns hier mit SEAlosophie beschäftigen. Irgendeine Anrede brauchen wir füreinander, wenn wir in Zukunft hoffentlich ein bisschen Zeit miteinander verbringen.
Ich freue mich, dass so viele von euch neugierig auf SEAlosophie sind und sich angemeldet haben. Schön, dass ihr reingeklickt habt in diesen ersten Newsletter. Ein bisschen Lampenfieber habe ich jetzt dann doch.
Noch einmal zur Erinnerung: Ich möchte euch hier Inhalte über die klassische Ergebnisberichterstattung hinaus liefern. Eine Anekdote hier, eine Geschichte da. Ob mir das gelingt, beurteilt am Ende nur ihr – und deshalb freue ich mich über jede Rückmeldung zu SEAlosophie. Aber dazu später mehr. Ihr habt mir den Kickoff zugespielt, jetzt muss ich ihn in die Endzone bringen.
I. Zurück auf den Acker
Im Juli 2017 saß ich an der Journalistenschule in einem Seminar zum Thema Interview. Unser Dozent hatte den Sternekoch Holger Stromberg mitgebracht, den wir dann eine gute Stunde mit Fragen durchlöchern durften. Stromberg, das wissen ein paar von euch sicher noch, war zwischen 2007 und 2017 Koch der deutschen Fußballnationalmannschaft der Männer. Kurz nach Spielende versorgte der Küchenchef die DFB-Spieler immer direkt in den Katakomben mit frischer Pasta, damit die ihre Energiespeicher wieder auffüllen konnten.
Und so ging es in ein paar Fragen natürlich auch um Fußball. Eine lautete: “Was war das hässlichste Stadion, in dem Sie je gekocht haben?” Die Antwort hatte es in sich. Ich möchte sie nicht im Wortlaut zitieren, denn das Interview fand nur zu Übungszwecken statt und wurde nie veröffentlicht. Aber soviel sei gesagt:
Die Worte “Washington, D.C.”, “American Football”, “abartig”, “Pisse”, “verrostet”, “verranzt”, “Ratten” und “hässlich” kamen darin vor.
In meiner Naivität dachte ich direkt ans FedExField in der US-Hauptstadt, aktuell Heimat des Washington Football Team. Verifiziert habe ich meine Vermutung aber bis zur Recherche für diese Newsletter-Ausgabe nie. Also bis vor wenigen Minuten. Und siehe da – ich lag falsch. Stromberg muss vom Robert F. Kennedy Memorial Stadium gesprochen haben, das von 1961 bis 1996 D.C.s Footballteam beherbergte. In dem zwischen 1976 und 1995 die Seahawks vier Spiele verloren und eins gewannen.
Im September wurde übrigens bekanntgegeben, dass dieses Stadion 2022 abgerissen werden soll. Glaubt man Holger Strombergs feiner Nase, kommt die Entscheidung mindestens zehn Jahre zu spät.
Vielleicht habe ich dem FedExField, in dem die Seattle Seahawks am Sonntag gastieren, mit meiner falschen Verdächtigung unrecht getan. Aber für mich war es vom Stadion mit dem ungepflegtesten Rasen der NFL zu den miefigen Katakomben nicht mehr weit. Das hat sich vor acht Jahren so bei mir eingebrannt.
Rückblende: 6. Januar 2013, Wild-Card Round, Washington, D.C. Die Greenkeeper hatten vor dem Spiel tatsächlich Grasflocken auf den Acker geworfen und das Gemisch dann mit grüner Farbe übersprüht. Dieses Experiment (und den Leichtsinn seines damaligen Cheftrainers Mike Shanahan) bezahlte Robert Griffin III mit dem Riss seines vorderem Kreuz- und Außenbandes im rechten Knie. Und mit seiner Karriere als laufgefährlicher Starter in der Liga. Für seinen Gegenüber Russell Wilson ging’s dagegen weiter steil bergauf.
Griffins Ausfall besiegelte damals den gefühlt etwas glücklichen Sieg der Seahawks:
Der angeschlagen ins Spiel gegangene RGIII brachte sein Team durch zwei Touchdown-Pässe im ersten Quarter mit 14:0 in Führung. Ohne Knieprobleme wäre er wohl kaum zu stoppen gewesen.
Den Seahawks gehörte das zweite Viertel. Kicker Stephen Hauschka mit zwei Field Goals und zwischendurch Fullback Michael Robinson mit dem Touchdown-Fang stellten den Anschluss her.
Nach einem punktlosen dritten Quarter – Russell Wilson managte, Robert Griffin humpelte – fand Marshawn Lynch Mitte des vierten Viertels zu Fuß die Endzone. Zach Miller fing die Two-Point Conversion. Und Hauschka sorgte per Field Goal für die Vorentscheidung.
Die Seahawks vollendeten so ihr Comeback, zogen in die Divisional Round ein und schafften dort fast gar eine noch spektakulärere Aufholjagd. Dann sagte Russell Wilson die Sätze, die die Titel-Saison 2013 einleiteten:
“When the game was over, I was very disappointed, but right before I got back to the tunnel, walking off the field, I got so excited for the next opportunity, next year. Looking forward what we have in the future.”
Am Sonntag geht’s also zurück ins FedExField. In das Stadion, in dem sich die Seahawks ihren ersten Playoff-Auswärtssieg nach 30 Jahren Flaute holten. In das Stadion, in dem Percy Harvin 2014 drei (!) Touchdowns wegen Regelverstößen seiner Mitspieler aberkannt wurden. In das Stadion, in dem Alex Smith sich im November 2018 so schrecklich verletzte – und in dem er im Oktober 2020 sein Comeback gab.
Die Seattle Seahawks sollten gewinnen. Denn verlieren sie, können sie sich nicht damit trösten, dem Washington Football Team den Rasen kaputt zu treten. Ist er nämlich schon.
II. Jamal Adams und die Sacks
Lasst uns über Strong Safety Jamal Adams reden. Seit Sonntag ist er Rekordhalter für die meisten Sacks, die jemals ein Defensive Back in einer NFL-Saison erzielt hat (8,5). Drei Spieltage vor Ende der Regular Season. Und obwohl er vier Partien verpasst hat.
Mein ehemaliger Mitbewohner Beau aus leider viel zu lange vergangenen Tagen an der University of Oregon ist Anhänger der New York Jets. Armer Kerl. Nach dem Trade im Juli schrieb er mir folgende Sätze:
“Adams was without a doubt the best Jet since Darrelle Revis. Not quite as impactful as Revis, in my opinion, mainly because of positional value. But he is so much more fun to watch play. Revis and his matchup were just invisible, but Adams is all over the field and in on seemingly every play. Run stuffing, pass rushing, sideline to sideline, on slot receivers, on tight ends, dropping deep. He's better in the box but he's so intense and plays so hard. You'll love watching him.”
Abgesehen davon, dass Beau hier wieder einmal eine unserer Langzeit-Debatten aufleben ließ – Wer war besser: Revis oder Richard Sherman?! – schraubte er meine durch den Trade-Gegenwert von zwei Erstrundenpicks hohen Erwartungen direkt noch ein bisschen höher.
Am Sonntag während des Spiels haben wir uns wieder geschrieben – und ein kleines Zwischenfazit gezogen. Er lag in mindestens einem Punkt richtig. Ich schaue Jamal Adams verdammt gerne beim Spielen zu. Ich höre ihm auch gerne zu, wenn er mit der Presse spricht.
Aber in Sachen Passverteidigung hat die Regression den nie wirklich herausragenden Manndecker eingeholt. Sicher hat da mit reingespielt, dass Adams verletzt war und sich nicht so gut eingewöhnen konnte. Dass die gesamte Secondary schwach spielte und Absprachen nicht stimmten. Dass vom Pass Rush keine Unterstützung kam. Das trübt die Begeisterung von seiner Art des Verteidigens ein bisschen.
Vielleicht spielt auch der bei mir im Kopf herumschwirrende – schwierige – Vergleich mit Kam Chancellor unterschwellig eine Rolle. Denn der hatte ein wunderbares Gefühl für Räume und perfektes Timing bei seinen Hits. Chancellor war der Safety im Körper eines Linebackers, Adams ist der Safety mit der Spielweise eines Linebackers.
Ich glaube, mit dem Trade werde ich erst so richtig leben können, wenn Adams die Seahawks in den Playoffs auf eine neue Ebene hebt. Alles andere wäre auch ohne ihn gelungen. Eine neue Ebene, das wäre für mich mindestens das NFC Championship Game – und die erreicht Seattle nur mit konstant besserer Passverteidigung. Damit wären der zukünftig hohe Preis (15 Millionen US-Dollar oder mehr) und der daraus resultierende langfristige finanzielle Impact etwas leichter zu ertragen. Am Ende können aber nur Titel dafür entschädigen, dass die Seahawks sich mit diesem Trade vielleicht auf lange Sicht die Wettbewerbsfähigkeit erschwert haben.
III. Native American Football
In der Offseason haben wir im Rahmen der Proteste rund um die Black Lives Matter-Bewegung mitverfolgen können, wie der Druck auf das Washington Football Team (insbesondere durch Sponsoren) zu groß wurde. Es hat lange gedauert, bis die Verantwortlichen des NFL-Teams in der US-Hauptstadt die Teamnamen-Debatte endlich ernst nahmen – und schlussendlich den Namen der Franchise änderten.
2016 hatte die Washington Post eine Studie veröffentlicht, laut der nur eine*r aus zehn Native Americans den Namen Washington Redskins (ich werde ihn nur das eine Mal verwenden) als beleidigend empfindet. Wissenschaftlich publiziert wurde diese telefonische Befragung nie, die Methodik gilt als fragwürdig. Die Erkenntnisse jedenfalls deckten sich mit denen aus einer früheren Studie (2014) des Annenberg Public Policy Center. Und natürlich gefielen diese dem Teambesitzer Dan Synder, der sie von da an ständig zitierte und Zweifel wegwischen wollte, wenn er auf den Namen angesprochen wurde. Schließlich ist ein Rebranding mit enormem finanziellen und logistischen Aufwand verbunden.
Anfang 2020 veröffentlichten die University of Michigan und die UC Berkeley eine neue Studie, der zufolge knapp 50 Prozent der Native Americans nicht mit dem Teamnamen und über 60 Prozent nicht mit der Einbindung ihrer Bräuche (Tänze, Gesten) in den Sport-Kontext einverstanden sind. Diese Untersuchung wollte den Ansatz der Washington Post überprüfen und anhand wissenschaftlicher Gütekriterien optimieren. Sie lieferte neue, andere Erkenntnisse, die für ein Rebranding sprachen.
Ich stelle mir an der Stelle immer wieder die Frage, ob die Namensänderung nicht unabhängig von den nun deutlicheren Prozentzahlen hätte vorangetrieben werden müssen. Selbst die sich diskriminiert fühlende Minderheit einer Minderheit sollte Grund genug sein, Diskriminierung zu bekämpfen.
Ganz ohne Studie lief die Markenentwicklung 1975 bei den Seattle Seahawks ab. Der Teamname kam aus einem öffentlichen Wettbewerb. Das Logo ist angelehnt an eine Adlermaske des Kwakwaka’wakw-Stammes aus dem Pacific Northwest.
Als 1975 das Logo der neuen Franchise entstand, gehörten Stämme wie die Kwakwaka’wakw und ihre Kunst zu den bekannteren im Nordwesten. General Manager John Thompson bestätigte bereits damals im Seattle Post-Intelligencer, dass die Design-Taskforce der NFL sich beim Entwurf auf einen Kunstband (“Art of the Northwest Coast Indians”, Robert Bruce Inverarity) bezogen hatte.
Durch einen Blogeintrag des Burke Museum in Seattle erfuhr das Hudson Museum der University of Maine von der Geschichte hinter dem Seahawks-Logo und informierte Kuratorin Robin K. Wright über den Standort der Maske. Und so reiste das Kunstwerk 2014 als Leihgabe von Maine nach Washington, wo es unter Mitwirkung von Stammesangehörigen und im Beisein der Seahawks präsentiert wurde und bis Sommer 2015 ausgestellt blieb.
Hinweis: Comedian Jan Böhmermann sprach in seiner Sendung ZDF Magazin Royale am vergangenen Freitag kritisch und sehenswert über geklaute Kunst aus der Kolonialzeit, die im renovierten Humboldt Forum ausgestellt wird. Dass es auch in Nordamerika immer wieder vorkam, dass Reisende bei Expeditionen Kulturgut stahlen, beschreibt der folgende Absatz des oben verlinkten Blogeintrags:
“The reasons for this are multi-faceted going back to the late 19th century popularity of the totem poles, seen by tourists on steam ship trips traveling to Alaska and British Columbia. One of these poles was appropriated (literally stolen) and used as a symbol of Seattle starting in 1899, gaining even more popularity during the Alaska Yukon Pacific Exposition of 1909.”
Die Zahlen der Woche
Kicker haben in dieser Saison bereits 6 PATs verschossen gegen die Seahawks – das ist Liga-Spitzenwert. Am vergangenen Wochenende kam kein weiterer dazu, weil die New York Jets nicht die Endzone erreichten. Dafür aber verdoppelte deren Kicker Sergio Castillo die Anzahl der verschossenen Field Goals gegen Seattle auf nun sechs.
4 Tage Ausflug mit den Wide Receivern – das stand auf dem laminierten Blatt Papier, das Tyler Lockett seinem Mitspieler DK Metcalf nach dessen Touchdown als verfrühtes Geburtstagsgeschenk überreichte. Sämtliche Kosten des Beschenkten übernimmt die Gruppe.
Mit 7-9 in die Playoffs? Damit kennen die Seahawks sich aus. Sollte das NFC-East-Team am Ende der regulären Runde mit nur sieben Siegen die Postseason erreichen, dürften wir uns am wenigsten beschweren. Denn ohne das aktuell gültige Playoff-System wäre Beastquake nie geschehen.
Der Link der Woche
Immer zum Jahresende hin kuratiert The Athletic seine 20 besten Texte des Jahres. Die sind dann auch ohne Abonnement kostenlos lesbar. Michael Shawn-Dugar, als Beat Writer zuständig für die Seahawks, könnte mit mehreren Texten darin erscheinen. Er fand einen kreativen Umgang mit der Pandemie, vermied lange Flugreisen und verfolgte Auswärtsspiele stattdessen mit Radiokommentator Steve Raible, Ex-Verteidiger Cliff Avril oder einer Gruppe Elite-Soldaten. Und er schrieb ganz wunderbar über Colin Kaepernick, Michael Bennett und Black Lives Matter.
Am meisten gepackt hat mich aber ein anderer Artikel. Der folgende Auszug aus Dugars Text über Brandon Browner bekommt eine ganz andere Wirkung, wenn man ihn mit dem Kontext liest, dass der ehemalige Seahawks-Verteidiger inzwischen im Gefängnis sitzt:
“They brought us in here to put our motherfucking hands on people,” he told Sherman, “so put your hands on people.”
Es ist die traurige Geschichte von einem zweifachen Super-Bowl-Champion, der vom Mitgründer der Legion of Boom zum Straftäter wurde. Den frei zugänglichen Text findet ihr hier.
Das Two-Minute Warning
Was macht eigentlich… Zach Miller?
Der Tight End war damals in der Wild-Card Round der Saison 2012 ausschlaggebend fürs Weiterkommen der Seahawks. Mehrere lange Third-Down Conversions, ein verwandeltes Fourth Down und eine Two-Point Conversion liefen über Miller.
Nach dem Karriereende im Jahr 2015 ging der Super-Bowl-Champion zurück an die Arizona State University, um seinen Bachelor in Finanzwesen abzuschließen. Inzwischen ist er zertifizierter Finanzplaner und hilft als solcher (ehemaligen) Athletinnen und Athleten, die in Geldnot geraten sind. Ein Werdegang vom Tight End zum Tight Hemd sozusagen.
Wenn ihr mehr zum Thema lesen wollt, findet ihr hier einen aktuellen Artikel über Zach Miller und seine neue Berufung.
Wer hat das gesagt?
“Golly, I suck. That was horrible.”
Die Auflösung gibt’s in der nächsten Ausgabe.
Edda, dein Kommentar zum 40:3-Heimsieg gegen die New York Jets?
Das war sie, die erste Ausgabe von SEAlosophie. Vielen Dank, dass du bis zum Ende dabei geblieben bist! Hoffentlich lesen wir uns nächste Woche wieder.
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SEAlosophische Grüße
Max