Liebe SEAlosophinnen, liebe SEAlosophen,
ich habe heute Morgen keine Pfannkuchen (oder Eierkuchen, wie sie hier in Leipzig fälschlicherweise sagen!) gegessen. Okaaay, denkt ihr euch – warum diese Information? Sagen wir so: Mein Frühstück sah in den vergangenen Tagen sehr einseitig aus.
Schuld daran sind die Seattle Seahawks. Der Frust, den ich am Sonntagmorgen um 4 Uhr mit ins Bett nahm, war auch ein paar Stunden später beim Aufstehen noch da. Er entlud sich in der doppelten oder dreifachen Menge Pfannkuchenteig – so genau weiß ich das nicht mehr. Dieser Teigüberschuss ist ungefähr so unerklärlich wie der rätselhafte Leistungsabfall Russell Wilsons in der Saison 2020.
Und damit wären wir dann auch beim Thema dieses Newsletters. Nein, ich weiß nicht, was mit dem Quarterback der Seahawks passiert ist. Aber jetzt wo alle Pfannkuchen verspeist sind (süß, herzhaft, als Flädlesuppe), habe ich Lust auf eine kleine Runde mit der Frage aller Fragen:
“Woran hat’s jelegen?”
I. Blame Game
Wer ist schuld am Ausscheiden der Seahawks, am Execution-Desaster gegen die Los Angeles Rams, am durchaus vorhersehbaren Saisonende? Direkt vorweg: Ich habe natürlich keine perfekte Antwort darauf. Denn in die spielen Variablen mit hinein, die ich nicht kenne. Wie viel Mitspracherecht hat welcher Trainer, wenn es um Seattles Offensive geht? Und wird Russell Wilson intern zur Verantwortung gezogen, wenn er schlecht spielt?
Wenn ich die Verteilung der Schuld an Seattles Déjà-vu-Aus früh in den Playoffs in einem Tortendiagramm wiedergeben müsste, sähe das nach meinen äußerst präzisen Berechnungen grob über den Daumen gepeilt wohl so aus:
Okay, bitte nicht ganz ernst nehmen (bis auf die Reihenfolge der Gewichtung).
Ich möchte aber trotzdem klar sagen: Für mich war Offensive Coordinator Brian Schottenheimer in der Nacht von Dienstag auf Mittwoch nur das Bauernopfer. Die Trennung wegen “philosophischer Differenzen” – von welcher Seite auch immer sie am Ende ausging – war eine Erinnerung daran, wer in Seattle das Sagen hat: Pete Carroll.
Zunächst zur Entlassung Schottenheimers: Noch am Montag ging Carroll in einem Radiointerview davon aus, dass Schotty auch 2021 wieder für die Seahawks Plays callen würde. Schließlich habe der ja spät in der Saison geholfen, die Offensive anzupassen, um Ballverluste zu vermeiden.
Am selben Tag sagte Carroll zum Abschluss seiner Pressekonferenz außerdem Folgendes:
“The true loyalty is the people who will tell you what you need to hear when you might not want to hear it.”
Ob Carroll damit seine zwei Söhne Brennan und Nate meinte oder aber Leute wie Brian Schottenheimer – unklar. Der Satz wirkt aber etwas unglücklich, weil kurze Zeit später der Offensive Coordinator nach einem Gespräch unter vier Augen keinen Job mehr hatte.
Noch einmal zurück zum Talk im Radio. Dort erzählte Carroll übrigens auch ganz beiläufig, dass er den Call von Schottenheimer bei 4th & 1 nicht mochte, als es für Seattle spät im Spiel um alles ging. Deshalb schritt er ein. Das Ergebnis waren Chaos und ein False Start der Seahawks, aus dem ein Punt resultierte.
Die zweite Aussage aus dem Radio-Gespräch verdeutlicht, was in dieser Saison passiert sein wird. Die Kurzversion von Anfang bis Ende: Brian Schottenheimer warb bei Pete Carroll nach dem Playoff-Aus in der vergangenen Saison für mehr Vertrauen in den Quarterback. Für mehr Passspiel bei First und Second Down in neutralen Situationen, kurz #LetRussCook. Carroll willigte irgendwann ein, auch wenn es ihm nie so ganz recht war – unter der Bedingung, das Experiment zu beenden, sobald es schiefgehe. Die Saison begann, die Seahawks spielten sich in einen Rausch. Dann kam das, was eigentlich jedes Jahr Mitte der Runde passiert: Russell Wilson hatte ein paar schwächere Spiele. Und: Defensiven stellten sich ein auf die Tiefball-Seahawks. Der vom passlastigen Ansatz nicht überzeugte Carroll bekam erste Zweifel. Schottenheimer, das zeigen diverse Videoanalysen (1, 2, 3 Szenen hier zum Beispiel), schaffte es dennoch, seinem Quarterback optionale Konzepte anzubieten. Wilson aber konnte diese nicht umsetzen, bis zum Ende der Regular Season nicht. Er fand nicht aus seinem Tief heraus. Als gegen die Rams dann in der Wild-Card Round nichts lief in der Offensive (was auch am Matchup lag, das die Symptome verstärkte), brach Carroll vollends mit dem Kochen und riss die Kontrolle an sich.
Was auch er nie so ganz wahrhaben wollte ist, dass sein Quarterback da bereits seit Monaten nicht gut spielte. Wie so oft in seiner Karriere in Sacks reinlief. Offene Receiver reihenweise nicht sah. Einer nun wackligeren O-Line nicht mehr vertraute, selbst wenn sie ihm mal Zeit verschaffte (und das kam oft genug vor). Einfach mal bei riskanten oder wenig aussichtsreichen Würfen nicht mehr so viel Dusel hatte wie zu Beginn der Saison oder in anderen Jahren.
Ich finde, hier ist der Diskurs komplett falsch abgebogen und geht nicht tief genug, wenn die Reaktionen auf die Entlassung des erfolgreichsten Offensive Coordinators in der Wilson-Ära primär “Na endlich” und “Wurde aber auch Zeit” lauten.
Schottenheimer hatte seine Schwächen, klar. Kaum ein Team wirkt in den ersten Sekunden von Spielzügen so träge wie die Seahawks. Und warum er Wilson gegen die Rams-D-Line keine Rollout-Optionen gegeben hat, um seine Stärken außerhalb der Pocket auszuspielen, wird sein Geheimnis bleiben.
Doch aus meiner Sicht war nicht Schottenheimer es, der Seattle in der zweiten Saisonhälfte in Schwierigkeiten brachte, sondern primär Wilson. Schotty hat er unter einem alles kontrollierenden und alles mit dem Laufspiel lösen wollenden Head Coach das Maximum rausgeholt – zumindest zeitweise. Damit (und mit seinen Anpassungen später) hat er uns allen mehrere Dinge bewiesen:
Er selbst ist kein sturer Verfechter der Laufspiel-Philosophie, wie wir es bei seinem Dienstantritt gedacht und kritisiert hatten.
Auch Russell Wilson kann auf dem Spielfeld aussehen wie Sam Darnold, Mitchell Trubisky oder Jared Goff. Sogar über mehrere Wochen hinweg. Nicht nur Pete Carrolls Philosophie limitiert also die Offensive der Seahawks, auch durch Russell Wilsons Spielweise in der Pocket (und damit tatsächlich auch Größe) wird sie eingeschränkt.
Pete Carroll weiß außer dem Laufspiel keinen Ausweg, wenn dem Passspiel eine große Säule wegbricht. Da aber dieses in der Wild-Card Round ebenfalls nicht auf der Höhe war, konnten die Seahawks selbst die vermeintliche Schwäche der Rams nicht ausnutzen.
Es ist nicht das erste Mal, dass Pete Carroll die Notbremse zieht, wenn sich ein Offensive Coordinator von seiner Philosophie zu weit entfernt (siehe Darrell Bevell nach der Saison 2017). Glaubt man seinen jüngsten Aussagen (und die sollte man immer mit Vorsicht genießen, wie sich bei Schottenheimer gezeigt hat), dann folgt nun im zweiten Zyklus die Rückkehr zum Hardcore-Laufspiel. Vielleicht wiederholt sich damit dann das Playoff-Aus der Spielzeit 2018, als die Seahawks gegen die Dallas Cowboys stur in eine Wand gelaufen waren – immer und immer wieder.
Wer dann Offensive Coordinator ist? Eigentlich ist das völlig egal.
Der Link der Woche
In meinem Kommentar zum Ausscheiden der Seahawks bei den German Sea Hawkers habe ich einen Vergleich mit Earl Thomas gewählt. Sein Absturz vom legendären Safety zur Persona non grata haben vier Autoren bei The Athletic – darunter Michael-Shawn Dugar, der in dieser Woche noch präziser und scharfsinniger als sonst über Seattles NFL-Team berichtet – wunderbar zusammengeschrieben. Mit einem Abonnement könnt ihr den Text hier lesen. Solltet ihr keins besitzen – ich habe noch vier Gäste-Pässe für 30 Tage Gratis-Zugang. Meldet euch gerne, wenn ihr einen davon wollt!
Das Two-Minute Warning
Was macht eigentlich… Gus Bradley?
Der ehemalige Defensive Coordinator der Seahawks (2009-2012, als die Ära der Legion of Boom begann) war zuletzt in selbiger Funktion bei den Los Angeles Chargers tätig, nachdem er zwischen 2013 und 2017 als Head Coach bei den Jacksonville Jaguars nur 14 von 62 Spielen gewann. 2021 wird er die Position des ranghöchsten Defense-Trainers bei den Las Vegas Raiders unter Jon Gruden bekleiden.
Wie ich jetzt auf Gus Bradley komme? Gestern gaben die Raiders seine Verpflichtung bekannt – jedoch mit einem Foto von Ken Whisenhunt. Ooops.
Wer hat das gesagt?
“I'm counting on everybody coming back.”
Auflösung vom 06.01.2021: Defensive End Carlos Dunlap blickte zurück auf den Trade Mitte der Saison, der ihn von den Cincinnati Bengals zu den Seattle Seahawks schickte. In einem Artikel bei The Players’ Tribune äußerte er sich wenige Tage später auch zur Teamkultur in Seattle.
Edda, was fangen wir an mit so viel Januar ohne Seahawks-Football?
Die SEAlosophie fällt heute etwas kürzer aus als sonst. Einerseits, weil sie in den vergangenen Wochen etwas eskaliert war. Andererseits, weil ich in den letzten Tagen ziemlich viel Energie in Texten und Social-Media-Beiträgen liegen gelassen habe. Schreibt mir gerne, wenn ihr anderer oder ähnlicher Meinung zu diesem Brennpunkt-Thema bei den Seahawks seid!
Dieser Newsletter ist übrigens entstanden, während Erdäpfel für einen schwäbischen Kartoffelsalat (ja, ohne Mayonnaise!) auf dem Herd köchelten. Scheinbar verdaue ich den Frust über das tragische Ende von #LetRussCook, indem ich mich ins Kochen stürze.
Mit Beginn der Offseason sollte es etwas ruhiger werden. Ob ich weiterhin einmal pro Woche eine Ausgabe verschicke, weiß ich noch nicht. Vielleicht klappt’s auch nur alle zwei Wochen. Wir werden sehen!
Wenn ihr (oder eure Freunde) SEAlosophie noch nicht abonniert habt, könnt ihr (können sie) das hier tun:
SEAlosophische Grüße
Max