Liebe SEAlosophinnen, liebe SEAlosophen,
müsst ihr in der Weihnachtszeit auch manchmal an Defensive End Michael Bennett denken? Ich erinnere mich gerne zurück an Black Santas Zeit bei den Seattle Seahawks. An die Frühstarts, an die “Two pumps gets you a baby, three pumps gets you a fine”-Shirts, an die Radtour im CenturyLink Field.
Und damit hinein in die Weihnachtsausgabe von SEAlosophie. Wenn ihr nach den Feiertagen Bücher umtauschen müsst oder jetzt noch ein Last-Second-Geschenk benötigt, habe ich hier den provokanten Titel von Michael Bennett verlinkt – und hier ein ähnliches deutsches Werk, das nicht nur im Jahr 2020 zu unserer Standard-Lektüre gehören sollte.
Bis ihr beide Bücher vor euch liegen habt, müsst ihr euch mit meinem Newsletter zufrieden geben.
I. Tanking for Rick
Am vergangenen Sonntag sah ich nach dem Spiel der Seattle Seahawks zum Einschlafen noch ein wenig den New York Jets und Los Angeles Rams dabei zu, wie sie beide ihr Saisonziel in große Gefahr brachten. Bevor ich in einen sanften Playoff-Schlaf fiel, setzte sich bei mir folgende Frage im Gedächtnis fest: Haben die Seahawks in ihrer Franchise-Geschichte schonmal dieses sogenannte Tanking betrieben, also mehr oder weniger absichtlich verloren, um im NFL Draft eine möglichst gute Ausgangsposition zu haben?
Die Stichwort-Suche bei Google am nächsten Morgen brachte mich nicht wirklich weiter, aber beim Blick auf die Records der Seahawks in all ihren Spielzeiten von 1976 bis heute blieb ich am Jahr 1992 hängen. Wegen einer desolaten Offensive und trotz einer dominanten Defensive (um Defensive Tackle Cortez Kennedy und Free Safety Eugene Robinson) endete es für Seattle mit einer Bilanz von 2-14, der schlechtesten in der gesamten NFL. Aber: Auch die New England Patriots verloren 14 Spiele, darunter blöderweise auch eins gegen die Seahawks. Die Defensiv-Schlacht im Foxboro ging am 20. September 10:6 aus. Somit waren die Patriots das Team mit dem ersten Pick – und besten Aussichten auf Franchise-Quarterback Drew Bledsoe von der Washington State University.
Eine kurze Bemerkung am Rande dieses Tanking-Exkurses: Lustig, dass sich in dieser Geschichte zufällig zwei der dominantesten Teams des vergangenen Jahrzehnts um die goldene Himbeere streiten.
Nun mag man den Spielern der Seahawks aus der Ferne nicht unterstellen, dass sie damit irgendwelche Tanking-Pläne torpediert hätten, denn die Begegnung ereignete sich früh in der Runde (Week 3). Vergleicht man aber den Saisonverlauf beider Teams im Jahr 1992, sieht man zwei Patriots-Siege in den Wochen 11 und 12. Und man sieht einen zweiten Seahawks-Sieg in Woche 13. Über die Denver Broncos, in der Overtime, durch ein Field Goal von John Kasay. Hätte Backup-Backup-Quarterback Stan Gelbaugh damals nicht mit drei Sekunden auf der Uhr einen vierten Versuch in einen Touchdown verwandelt, wäre es nie zur Overtime gekommen. Und so hätte Kasay auch nicht die Möglichkeit gehabt, nach gut zehn Minuten in der Verlängerung die Entscheidung herbeizukicken und den Seahawks damit den First-Overall Pick zu zerschießen.
Der heute 51 Jahre alte Kasay wird wissen, wie sich Frank Gore, Sam Darnold und die anderen Jets nach dem komplettierten First Down kurz vor Spielende am Sonntag gefühlt haben müssen. An diesem Tag, an dem sie überraschend die Rams besiegten und wohl College-Sensation Trevor Lawrence für immer verloren.
Tanking ist eine unangenehme Angelegenheit – vor allem für die daran beteiligten Spieler. Es geht gegen die Natur des Sports und nagt an der Würde der Spieler, den Sieg (möglichst unauffällig!) absichtlich herzugeben. Deshalb ist es aus Sicht der Sportler verständlich, wenn sie sich über den Sensationssieg freuen, weil sie für einen Tag nicht mehr das Gespött der Fans sind. Sie sind es irgendwie aber dann doch wieder, weil sie sich ja gerade das Ausnahmetalent durch die Lappen gehen lassen und die Hoffnung auf bessere Zeiten im Keim erstickt haben.
Für die Jets könnte das nun Quarterback Justin Fields als Second-Overall Pick bedeuten. Für die Seahawks war es damals im NFL Draft 1993 Spielmacher Rick Mirer von der University of Notre Dame. Während die Patriots an erster Stelle Drew Bledsoe auswählten und sich von ihm viermal in die Playoffs führen ließen, schaffte es Seattle mit Mirer nie zu einem positiven Record (6-10, 6-10, 8-8, 7-9).
II. Das Punten der Lämmer
Wenn die Seahawks am Sonntag die Los Angeles Rams empfangen, dann sollte der Fokus natürlich auf der Bedeutung dieses Spiels liegen: Mit einem Sieg gewinnt Seattle die hart umkämpfte NFC West. Irgendwie reizt mich aber ein anderer Aspekt des Aufeinandertreffens noch ein bisschen mehr: das Jahrhundertduell der Punter. Michael Dickson und Johnny Hekker sind Ikonen ihrer Disziplin. Und Punts sind der Running Gag, wenn ihre zwei Teams sich begegnen.
In der Jon-Ryan-Gedächtnisrubrik möchte ich euch die fünf spektakulärsten Punts in Erinnerung rufen, die bei Spielen zwischen Rams und Seahawks für Erheiterung sorgten. Dass es dabei Touchdowns von Tyler Lockett und Tavon Austin nicht in die Liste schaffen, spricht für die Qualität (😉) der folgenden Inhalte:
Bevor Nate Burleson TV-Analyst und -Kommentator wurde, arbeitete er unter anderem als Returner für die Seahawks. Durchaus mit Erfolg (2006), wie dieser Lauf über 90 Yards belegt. Bis heute ist Burleson Seattles Returner mit den meisten Yards in einer einzelnen Saison.
Warum die Rams Jared Goff so viel Geld geben, wo sie doch in Johnny Hekker einen mindestens gleich guten Quarterback haben? Man weiß es nicht. Der LA-Punter überraschte die Seahawks in dieser Szene aus der Saison 2014 mit einem Wurf zum First Down, um die Partie knapp drei Spielminuten später zu beenden. Seattle forcierte zwischenzeitlich sogar noch einen Fumble, bekam ihn aber nicht unter Kontrolle.
Rookie Doug Baldwin blockt, Veteran Michael Robinson sammelt ein und läuft zum Touchdown (2011). So einfach geht’s manchmal.
Alle rennen und reagieren auf den vermeintlichen Returner, niemand schaut in die Luft. Ein Klassiker, den sich die Seahawks ein Jahr nach der bitteren Lehrstunde dann gegen die Chicago Bears ausborgten.
Rivalität ist, wenn du bei 21 Punkten Vorsprung den Fake-Spielzug auspackst. So geschehen in Week 15 der Saison 2016. Lauf durch die Mitte, Flutschfinger, Ballkontrolle, Knockout – es war einer der legendärsten Auftritte von Jon Ryan im Trikot der Seahawks. Er selbst erinnert sich möglicherweise nicht mehr daran.
Wetterbericht für Sonntag: Milde Temperaturen, kein Regen, wolkig mit Aussicht auf Fake-Punts.
Die Zahlen der Woche
65 Receiving-Yards fehlen Wide Receiver DK Metcalf (1.223), um den Rekord von Steve Largent (1.287) aus der Saison 1985 zu brechen. In dessen Nähe kamen bislang nur er selbst (1.224, 1.237) in den Jahren 1979 und 1981 sowie Koren Robinson (1.240) in der Saison 2002.
Ihr erinnert euch sicher an vergangene Woche, als ich mich über den schlechten Zustand des Naturrasens im FedExField lustig gemacht habe. Didn’t age well. Basierend auf diesem Bericht von Football Outsiders aus dem Jahr 2018 ist das Spielfeld des Washington Football Team das sicherste der Liga. Am gefährlichsten (Stand 2018, seitdem wurde der Untergrund erneuert) – ihr ahnt es: der Kunstrasen im Lumen Field.
Die Playoffs sind den Seahawks sicher. Von der Setzliste her ist aber noch (fast) alles drin. Bei der New York Times lässt sich ohne große Rechenkünste berechnen, wie wahrscheinlich welches Szenario für Seattle ist. Welche Position und welchen Gegner in der Wild-Card Round würdet ihr bevorzugen, wenn es nicht der Spitzenplatz in der NFC wird? Oder müssen die Seahawks auf dem Weg in den Super Bowl jeden Gegner schlagen, wie es so schön heißt? Schreibt mir!
Der Link der Woche
Josh Gordons Geschichte ist ein nicht enden wollendes Drama. Eigentlich sollte der Wide Receiver am Sonntag erstmals seit einem Jahr Sperre wieder für die Seahawks auf dem Spielfeld stehen. Doch in der Nacht von Dienstag auf Mittwoch bestätigte Tom Pelissero von NFL Network einen vorherigen Bericht Bob Condottas von der Seattle Times, dass Gordon wieder auf unbestimmte Zeit nicht mit dem Team trainieren und spielen darf.
Was “Setback” in diesem Kontext genau bedeutet, ist Stand heute unklar. Im Englischen hat das Wort keine direkte Verbindung zu Drogenabhängigkeit. In dem Zusammenhang wird für einen Rückfall meist das Wort “Relapse” verwendet. Es ist spekulativ, aber vielleicht dreht sich hier alles um ein administratives Hindernis.
Der Kampf mit der Sucht – mit Alkohol, mit Kokain, mit Medikamenten – fiel Gordon schon immer deutlich schwerer als der mit Defensive Backs an Sonntagen in der NFL. Damit machte er es der NFL leicht, denn die konnte eine Suspendierung auf erhöhte Werte und die Missachtung des Protokolls schieben. Diese schwarz auf weiß vorliegenden Vergehen lassen sich nunmal leichter beweisen als häusliche Gewalt, bei der Aussage gegen Aussage steht – so unverständlich man die Gewichtung finden mag.
In einem offenen Interview sprach Gordon 2017 über seine Abhängigkeit:
“I would have these little pre-made shots. I used to love Grand Marnier. I could drink it down smooth. I could usually drink a lot of it. But if it wasn't that, it might be a whiskey or something. And I would drink probably like half a glass, or a couple shots to try and warm my system up, basically. To get the motor running. That's what I would do for games.”
Auch das folgende Video zeigt einen jungen Mann, der sich intensiv mit seiner Sucht auseinandersetzt – und, den zahlreichen Rückfällen nach zu urteilen, dennoch nicht davon loskommt.
Das Two-Minute Warning
Was macht eigentlich… Curt Warner?
Achtung, nicht verwechseln mit Kurt Warner, der ebenfalls für die (damals noch) St. Louis Rams auflief. Curt mit C, der Halfback, spielte sowohl für die Seahawks als auch die Rams, ehe er 1990 seine Karriere beendete.
In seiner Rookie-Saison 1983 wurde er AFC Offensive Player of the Year, 1994 nahmen die Seahawks den dreimaligen Pro Bowler in den Ring of Honor auf. Heute lebt er mit seiner Frau Ana und seinen Kindern in Camas im Südwesten Washingtons.
2018 schrieben die Warners gemeinsam mit Dave Boling von der Seattle Times ein Buch über den Autismus ihrer Zwillingssöhne Austin und Christian mit dem Titel “The Warner Boys: Our Family's Story of Autism and Hope”.
“Screaming incoherently, Christian threw himself on the floor and started banging his head. A crowd gathered, some yelling critically, “What are you doing to this child?”
Ignoring the insensitive remarks, Curt lay on the floor next to his son, tried to cradle Christian’s head to protect him and whispered consolingly until the moment passed. “How do you not love a man like that?” Ana asked.“
Wer hat das gesagt?
“Honestly, I came into the game pretty angry, pissed off just because.”
Auflösung vom 16.12.2020: Strong Safety Jamal Adams verwendete vergangene Woche das Wort “Golly”, das so viel bedeutet wie “Donnerwetter” oder “Menschenskind”.
Edda, in welchem Zustand befindet sich die Offensive der Seattle Seahawks?
So, das war’s für heute. Die Saison geht in die Hochphase, das Kalenderjahr neigt sich dem Ende entgegen. Kommende Woche lesen wir uns zum letzten Mal in 2020. Da geht es dann um die Geschichten des Jahres rund um die Seattle Seahawks.
Kleine Hausaufgabe bis dahin: Was waren eure High- oder Lowlights als 12s? Erzählt’s mir gerne in einem Kommentar oder per E-Mail-Antwort! Ich möchte ein paar eurer Antworten gerne am 30. Dezember aufgreifen.
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1) Verschenke Lesefreude zu Weihnachten. Teile den Newsletter mit befreundeten 12s.
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SEAlosophische Grüße
Max