Liebe SEAlosophinnen, liebe SEAlosophen,
es fällt mir schwer, mich als Fan zu bezeichnen. Zum einen, weil mir dann oft die nötige Distanz fehlt, Dinge halbwegs neutral (das gelingt sicher nicht immer) zu behandeln. Zum anderen, weil das Wort so nah am Fanatismus liegt, also eine Besessenheit oder gar Ideologie impliziert, mit der ich mich einfach nicht identifiziere.
Bei Doug Baldwin mache ich eine Ausnahme. Vielleicht bin ich wirklich (immer noch) besessen von seiner Spielweise, obwohl der Wide Receiver inzwischen seit zwei Jahren im Ruhestand ist. Vielleicht hänge ich (ein bisschen zu sehr) an seinen Tweets und seinen Lippen, wenn er spricht. Denn oft ist das, was er sagt, ziemlich besonnen und stark artikuliert. Schade lediglich, dass er nur noch so selten über seine Sicht auf die Dinge spricht. Zum Glück hat Baldwin jetzt mit den geschätzten Kollegen Stu und Adam vom Pedestrian Podcast der UK Sea Hawkers gesprochen. Ich möchte euch diese gute Stunde mit Baldwin ans Herz legen.
Darüber hinaus geht’s heute natürlich ein wenig um die Free Agency. Nur ein wenig, weil ich vermeiden will, dass der komplette Newsletter schon am Donnerstagmorgen wieder veraltet ist. Und auch, weil ich erstmals ein Interview geführt habe für die SEAlosophie. Mit Michael-Shawn Dugar von The Athletic habe ich über Rassismus gesprochen. Darüber, wie er diesen erfährt und wie dieser sich in der Gesellschaft, sei es im Sportjournalismus oder im American Football, äußert. Teil 1 des Gesprächs gibt’s in dieser Ausgabe.
Ich wünsche gute Lektüre, die zum Nachdenken anregt.
I. Free Agency Frenzy
Das neue Liga-Jahr und die Free Agency haben noch nicht einmal richtig begonnen, da haben viele Seahawks-Fans ihr Lieblingsteam schon wieder komplett abgeschrieben für die Saison 2021. Mir stellt sich an der Stelle dann immer zuerst die Frage: Was habt ihr eigentlich erwartet? Es ist hinlänglich bekannt, dass Seattles Verantwortliche in den ersten Tagen der Free Agency zurückhaltend agieren und ihre Finger von den ganz heiß umworbenen Spielern lassen – zumindest, wenn der Preis für diese irgendwann in astronomische Höhen steigt.
Im Nachhinein lässt sich dann immer leicht sagen: Hm, Joseph Thuney oder Corey Linsley oder sogar beide zusammen wären für die Seahawks bezahlbar gewesen und hätten der O-Line das dringend nötige Upgrade verpasst. Und irgendwo ist das auch in Ordnung. Auch ich hätte beide gerne in Seattle gesehen – vor allem auch, um Quarterback Russell Wilson in dieser Hinsicht keine Chance zur Ausrede mehr zu geben. Aber sich durch die Inaktivität der Seahawks bei Öffnung des Verhandlungsfensters verrückt machen lassen, das ist aus meiner Sicht übertrieben, denn:
Wir kennen durch Insider nur einen Bruchteil der Gespräche und Inhalte, die hinter den Kulissen geführt und verhandelt werden und wissen daher nicht, wo und inwiefern das Front Office in welcher Situation mitwirkte,
wir kennen nicht den Plan des Teams und können daher auch nicht beurteilen, ob er ge- oder misslungen ist, sondern lediglich auf Basis unserer wenig exklusiven Perspektive bewerten und
wir wissen jetzt noch nicht, wie ein Spieler in der anstehenden Saison performen wird und träfen daher Aussagen, die genau wie Draft-Noten ohne ausreichende zeitliche Distanz völlig nutzlos wären.
Was wir kennen, sind die Baustellen der Seahawks – und die dem Team zur Verfügung stehenden Mittel. Es fehlen in nicht relevanter Reihenfolge RB-Tiefe, WR-Tiefe und -Klasse, DE-Klasse, TE-Tiefe, OL-Klasse und CB-Erfahrung. Und um diese zu bekommen, stehen Seattle vier Picks im NFL Draft sowie Stand jetzt (nach der Verlängerung mit Defensive Tackle Poona Ford und der Verpflichtung von Cornerback Ahkello Witherspoon effektiv vielleicht noch knapp zweistellig Cap Space zur Verfügung.
Dass sich auch nach der ersten Welle der Free Agency noch gute Spieler finden lassen, haben die Seahawks bereits bewiesen (auch wenn man sich über die Trefferquote streiten kann). Positivbeispiele wären die Defensive Ends Michael Bennett und Cliff Avril oder Right Tackle Brandon Shell. Negativbeispiele wären Running Back Eddie Lacy oder Left Guard Luke Joeckel oder Defensive End Ziggy Ansah oder Cornerback Cary Williams.
Dass die Seahawks handeln müssen in den kommenden Tagen, ist unbestritten. Vier Picks reichen nicht, um die Lücken im Kader zu füllen – selbst wenn überraschend alle vier Rookies einschlagen. Fakt ist auch, dass Seattle Geld hat, um aktiv zu werden. Vielleicht nicht mitten im Kaufrausch, aber eben in den Tagen danach. Der Grat zwischen ein bisschen mehr Risiko gehen und Überbezahlen ist ein extrem schmaler. Spannende Kandidaten für potenziell vernünftiges Geld sind weiterhin auf dem Markt. Hier ein Auszug möglicher Seahawks-Kandidaten, der gewiss in ein paar Stunden (oder bereits mit Versand des Newsletters) veraltet sein wird:
TE Gerald Everett (wegen Waldron-Vergangenheit)
C David Andrews oder C Rodney Hudson
G/C Austin Blythe (wegen Waldron-Vergangenheit) oder G Gabe Jackson
CB Quinton Dunbar oder CB Richard Sherman
LB K.J. Wright (falls sein Markt kalt bleibt)
DE Carlos Dunlap (falls sein Markt kalt bleibt)
Kenny Golladay oder Will Fuller oder JuJu Smith-Schuster (Markt ist kalt)
II. Der wunderbare (Angry) Doug Baldwin
Stuart Court und Adam Nathan nehmen seit ein paar Jahren den Pedestrian Podcast auf und haben als UK Sea Hawkers schon einige prominente Gäste in der Sendung gehabt, darunter Mina Kimes, Cliff Avril und K.J. Wright. Auf die aktuelle Folge habe ich mich aber ganz besonders gefreut, denn Doug Baldwin war mit am Mikrofon. Das ist ungewöhnlich, weil a) Baldwin seit seinem Karriereende im Football nicht mehr wirklich präsent war und selten öffentlich Interviews gab und b) bei allergrößtem Respekt vor der Arbeit von Stu und Adam der Ped Pod von der Insel für viele ehemalige Spieler nicht die erste Station wäre, um eine Stunde lang über die eigene Karriere und die Seahawks zu quatschen. Doch Baldwin sagte zu. Herausgekommen ist eine fantastische Episode, die ich euch allen wärmstens empfehle, weil sie mir verdammt viele Aha-Momente beschert und oft ein Lächeln aufs Gesicht gezaubert hat. Hier ein paar Auszüge als Appetithappen:
Baldwin ist inzwischen Vater zweier Töchter, seine Perspektive auf die Welt hat sich dadurch verändert. Seine Familie sei gesund und kämpfe wie wir alle mit den Konsequenzen von Covid-19.
Das reale Leben fern von Football sei eine Herausforderung, weil man eben keine Videoanalyse habe, um Fehler zu korrigieren. Es sei kein Tabu für ihn gewesen, sich deshalb in Therapie zu begeben. Abstand vom Sport sei wichtig gewesen für seine mentale Gesundheit. Er versuche auch zwei Jahre nach seinem Karriereende noch herauszufinden, wer der Mensch unter dem Trikot mit der Nummer 89 genau ist.
Der Bau des Community Centers in Renton, das Baldwin initiiert hat, verzögerte sich durch Corona. Im Frühling 2021 solle Grundsteinlegung sein.
Baldwin erzählt davon, wie ihn John Schneider mit einem handgeschriebenen und per E-Mail verschickten Brief davon überzeugen habe wolle, als Undrafted Free Agent 2011 nach Seattle zu kommen. Der Zuspruch von Freund und College-Kamerad Richard Sherman habe ebenfalls bei der Entscheidung geholfen.
Es sei für viele Spieler aus dem damaligen Erfolgsteam (Generation ab 2010/2011) Marshawn Lynch gewesen, der mit seinem Laufstil und Einsatz im Training eine hervorragende Arbeitseinstellung vorgelebt habe.
Tarvaris Jackson und Sidney Rice hätten den Rookie Doug Baldwin unter ihre Fittiche genommen. Der im April 2020 bei einem Autounfall ums Leben gekommene Jackson habe seine Receiver jede Woche mit südländischen Spezialitäten bekocht und so eine Bruderschaft geschaffen, die das Team zusammengeschweißt habe.
Baldwin ist überzeugt, dass er Darrelle Revis, den Cornerback der New England Patriots, in Super Bowl XLIX komplett zerstörte. “I murdered him”, sagt er im Podcast immer wieder. Er sei das ganze Spiel lang offen gewesen, aber Russ habe sich damals nicht so sehr getraut, in seine Richtung zu werfen und auch noch nicht gewusst, wie gut er als Receiver sei.
Adam beginnt eine Frage mit einer Aussage: Es falle ihm schwer, das Team von 2012 mit dem von 2019 zu vergleichen. 2019 bedienten einige Fans und Spieler diesen Vergleich, als das Team in den Playoffs ausschied und hoffnungsvoll in die Zukunft blickte. Für Adam ist dieser Vergleich schwierig, weil das Team von 2012 durch die Bank extrem talentiert war.
Baldwin hätte sich gewünscht, dass die Seahawks Lynch an der Ein-Yard-Linie den Ball geben, zur Not auch mehrmals. Er sei überzeugt, dass die Niederlage leichter zu verarbeiten gewesen wäre, wenn Lynch dreimal erfolglos gelaufen wäre. So aber habe sich das Team abgewendet von dem Spieler, der es getragen hatte und dem alle Mitspieler blind vertraut hatten. Baldwin verstehe aber auch die taktische Seite, dass ein Pass vielleicht sinnvoller gewesen wäre. Nur spielten für ihn Emotionen bei einer solchen Entscheidung eben auch eine Rolle.
Es habe die Offensive damals nicht gestört, dass die LOB stets im Mittelpunkt der Unterhaltungen stand. Natürlich hätten die Spieler sich gegenseitig damit aufgezogen. Aber aus Baldwins Sicht steht LOB für Love Our Brothers und damit für die komplette Mannschaft – Offense, Defense, Special Teams.
London sei 2018 eine unglaubliche Erfahrung gewesen, die Menschen dort sehr freundlich. Baldwin war begeistert vom Fußball-Rasen auf dem Trainingsplatz. Er konnte die Reise aber nicht so sehr genießen, weil er sich beim Spiel an Ellenbogen und Schulter verletzte.
Das aktuelle Team verfolge er nicht intensiv und könne deswegen nicht viel zur Dynamik sagen. Er sei kein Insider mehr, doch die Verbindung zu ehemaligen Mitspielern noch vorhanden.
Baldwin macht einen spannenden Vergleich: Seattle ist ein wenig wie die Seahawks. Viele Menschen dort haben das Gefühl, dass ihre Region immer ein bisschen unterschätzt wurde. So fühlten sich viele Spieler im Team damals auch. Deswegen sei die Wirkung des Erfolgs auf die Stadt so groß gewesen.
III. Weekly Wilson Wisdom
Lange Zeit dachte ich, dass ich diesmal endlich einen Newsletter ohne den Quarterback der Seahawks schreiben würde. Falsch gedacht. Ich verspreche aber, dass ich mich mit meinen Gedanken zu Russell Wilson kurz fasse, jetzt wo ein Trade vom Tisch scheint. Was wir wissen und was wir nicht wissen:
Was ist passiert? Die Seahawks, primär wohl Pete Carroll, lehnten das Trade-Angebot der Bears erst am Dienstagabend ab. Daraufhin verpflichtete Chicago Andy Dalton. Das Angebot für Wilson soll bei drei Erstrundenpicks, einem Drittrundenpick und zwei Stammspielern gelegen haben. Das war nicht genug.
Ist die Absage Seattles ein Vertrauensbeweis für Wilson? Höchstens in Teilen. Selbst wenn die Seahawks Wilson eintauschen wollten, hätten sie es für diesen Gegenwert nicht machen sollen. Chicagos recht späte Erstrundenpicks hätten keinen einfachen Weg zu einem neuen Quarterback aufgezeigt.
Klingt das alles nach einem Abschied Wilsons vor der Saison 2022? Vielleicht, vielleicht auch nicht. Natürlich hängt das jetzt primär davon ab, ob Carroll und Wilson ihre philosophischen Differenzen überwinden können. Beleidigt sollte jedenfalls keine der Parteien sein. Wilsons Agent steckte den Insidern vier potenzielle Trade-Destinationen. Die Seahawks hörten sich über mehrere Wochen alles an, was an Geboten bei ihnen eintrudelte. Das alles ist legitim und Teil des Geschäfts, weshalb die Beteiligten nun professionell damit umgehen und sich aussprechen sollten. Falls die Differenzen bleiben oder die Seahawks erneut früh in den Playoffs scheitern, wäre die Cap-Situation 2022 günstiger für einen Trade.
Bleibt Wilson 2021 garantiert bei den Seahawks? Mit 100-prozentiger Sicherheit würde ich das noch nicht behaupten. Dafür muss erst der NFL Draft ereignislos vorübergehen.
Ist Russell Wilson immer noch der beste Quarterback, den die Seahawks jemals hatten? Ja. Das kann ich auch nach den neuesten Recherchen für mein Buch ohne jeden Zweifel behaupten. Aber nur ganz knapp vor Dan McGwire, Kelly Stouffer und Sam Adkins.
Nachgehawkt bei… Michael-Shawn Dugar
Heute gibt’s zum ersten Mal ein Interview-Segment in meinem Newsletter. Darin möchte ich in der Regel nicht über sportliche Themen sprechen, sondern über soziale, gesellschaftliche. Weil aber der Sport damit eng verwoben ist, werdet ihr hier oft eine inhaltliche Mischform vorfinden, die den Bereich Football nicht gänzlich ausschließt. Den Auftakt macht heute Michael-Shawn Dugar von The Athletic, der vor einigen Wochen die starke Geschichte zu den Wilson-Carroll-Differenzen mitveröffentlichte und im Berufsalltag die Seahawks journalistisch begleitet. Ein Gespräch über das diskriminierende Konzept unbezahlter Praktika und Ausbeutung im College Football.
Mike, ich möchte unser Gespräch beginnen mit einem Tweet der NFL-Network-Reporterin Jane Slater. Vor einigen Wochen schrieb sie von einem aufregenden Praktikum, das sie vermitteln könne. Unbezahlt, aber eben eine gute Erfahrung. Die Intention dahinter war vermutlich gut. Warum war der Tweet dennoch problematisch?
Gratis arbeiten ist schlecht. Wenn du es vermeiden kannst, solltest du das. Leute, die sich unbezahlte Praktika leisten können, haben meist Privilegien, ob das sich nun auf ihre Hautfarbe oder Schicht bezieht. In der Regel können weiße Menschen es sich leisten, auf Einkommen zu verzichten, beispielsweise, weil sie von ihrer Familie unterstützt werden. Das erkennt man, wenn man sich das Wohlstandsgefälle in den USA ansieht. Somit schließen unbezahlte Praktika marginalisierte Gruppen aus – speziell im extrem weißen, männlichen, christlichen und heterosexuellen Berufsfeld Journalismus –, die es sich nicht leisten können, für lau zu arbeiten, weil sie etwas essen wollen und Rechnungen bezahlen müssen. Mein Problem mit dem Tweet bezieht sich also nicht auf das von Jane angebotene Praktikum. Ich weiß nicht einmal, um was es dabei genau ging…
…es ging darum, Draft-Kandidaten via Zoom zu interviewen.
Damit öffnete sie die Büchse der Pandora für unbezahlte Praktika. Und das führte zu Diskussionen. Auch, weil sich von meiner eben begründeten Position Menschen angegriffen fühlten, die sagten, dass sie solche unbezahlten Praktika absolviert hätten und trotzdem nicht privilegiert seien. Das mag in Einzelfällen so sein. Aber da wären wir dann beim zweiten Problem des Konzepts von unbezahlter Arbeit.
Und das wäre?
Das Narrativ, dass harte Arbeit für umsonst, also der „Grind“, einfach dazugehört. Dass man da durch muss, um Erfahrung und irgendwann ein Gehalt zu bekommen. So ist es aber nicht. Es kann nicht sein, dass man pleite ist, weil man in einem Berufsfeld Fuß fassen will. Im Journalismus oder Baugewerbe. Als Lehrer oder Krankenschwester. Ich habe bei der Debatte ein Problem damit, das Gratis-Arbeit für manche Menschen grundsätzlich Teil des Prozesses ist.
Wenn Leute sagen, dass man hart Arbeiten muss, zur Not eben einen bezahlten Job zusätzlich aufzunehmen, um einen Fuß in die Tür zu bekommen, dann bewerben sie quasi die Idee, ausgenutzt zu werden, um irgendwann vielleicht den Traumjob zu landen?
Genau. Und dadurch entsteht der Eindruck, dass gesellschaftlicher Aufstieg hierzulande nur durch Leistung möglich ist. Dieser Eindruck ist falsch. Gerade im Journalismus bekommen nicht die besten Autoren die Jobs, sondern die, die gute Connections haben. Gut sein ist ein Bonus, aber es kommt nicht wirklich darauf an, wie hart du gearbeitet hast oder wie talentiert du bist. Wir sollten diesen Eindruck nicht aufrechterhalten, insbesondere nicht, wenn Nicht-Weiße am Ende mit den Konsequenzen leben müssen.
Ich versuche mal einen Vergleich. Siehst Du in diesem Szenario Parallelen zwischen angehenden Journalisten und College-Sportlern? Auch die sind unbezahlte Arbeitskräfte in einer Milliardenindustrie. Und auch ihre Chance, am Ende einen bezahlten Job zu landen, ist verschwindend gering.
Ich glaube, der Vergleich funktioniert in Bezug auf die Tatsache, dass in beiden Industrien das Geld ja vorhanden ist und die Leute trotzdem nicht bezahlt werden. Cheftrainer verdienen Millionen. Nick Saban, Head Coach von Alabama Football, fährt einen maßgefertigten Mercedes-Benz. Selbst an meiner Alma Mater Washington State, die 30 Millionen US-Dollar Schulden hat, ist Geld vorhanden. Dort haben sie gerade die Namensrechte des Stadions über die kommenden zehn Jahre für elf Millionen US-Dollar verkauft. Aber keiner der Spieler, der Samstags in genau diesem Stadion aufläuft, sieht davon auch nur einen Cent. Das ist für mich die Gemeinsamkeit: Wir bezahlen euch nicht nicht, weil wir nicht können, sondern weil wir nicht wollen.
Ein dagegen immer wieder angeführtes Argument ist, dass die Student-Athletes das ja alles freiwillig machen.
Das Schlimme am College-Sport ist, dass die Studierenden die einzigen sind, die ihre Arbeit aus Liebe zum Spiel machen sollen. Alle anderen Menschen bei einem Footballspiel, die Fans mal ausgenommen, verdienen Geld mit dem, was sie im Stadion tun. Der Journalist, die Person, die den Müll aufsammelt, die Leute, die Tickets kontrollieren und Popcorn verkaufen, die Kommentatoren, die Kameraleute. Die fragt niemand, ob sie aus Liebe zur Arbeit oder im Tausch für ein Studium oder ein paar Gratis-Kleidungsstücke von Nike die Kamera halten oder Tickets checken wollen. Was wir hier sehen, ist die kapitalistische Idee, so viel wie möglich aus unbezahlter Arbeit herauszuquetschen.
Ein weiteres Gegenargument sind die Stipendien, die diese Sportler erhalten. Funktionieren die in gewisser Weise als Druckmittel? Denn viele kommen aus Situationen, die ihnen ohne Sport nie ein Studium ermöglicht hätten.
Diese Ausbildung ist mangelhaft. Wenn man weiß, wie der Stundenplan eines Student-Athletes aussieht, bleibt da nicht viel Zeit fürs Studium. Krafttraining, Nachhilfe, Mannschaftstraining, Spiele, Auswärtsreisen. Diese jungen Menschen sind zuerst Athleten und dann Studenten. Weißt Du, wie viel Turner (Anm.: US-Medienunternehmen) für die TV-Rechte an March Madness bezahlen?
Für das College-Basketball-Turnier zur Bestimmung des nationalen Meisters? Ich habe gelesen, das sind Milliarden.
Milliarden. Das Geld wäre also vorhanden, um die Sportler zu bezahlen. Es gibt keine Gründe, es nicht zu tun. Ich denke die Quintessenz daraus ist, dass diejenigen, die gegen die Bezahlung sind, Student-Athletes einfach pleite sehen wollen. Die NCAA (Anm.: Hochschulsport-Dachverband in den USA) verbietet es dir, deine alten Trikots zu verkaufen. Dein Trainer kann dir den Wechsel an bestimmte Hochschulen verbieten. Das ist Einschränkung von Meinung, Bewegungsfreiheit und Verdienstmöglichkeiten. Im Gegenzug druckt die Uni dein Gesicht auf die Eintrittskarten fürs nächste Spiel oder verschenkt im Stadion Wackelkopf-Figuren von dir an die Zuschauer. Und der Trainer kann jederzeit die Schule wechseln, wenn er ein Angebot bekommt.
In Texas gab es zuletzt einen Vorfall, dass die Spieler der University of Texas in Austin das Lied der Schule nicht mehr singen wollten, weil es die Praxis der Sklaverei vertritt. Daraufhin kam es zum Konflikt mit den einflussreichen Spendern der Schule, die wie an vielen Universitäten das Sportprogramm mitfinanzieren.
Die Spender sagten quasi: Wir bezahlen für euch. Ihr gehört uns. Und deshalb singt ihr gefälligst diesen Song. Und wenn ihr das nicht tut, sorgen wir dafür, dass ihr im Bundesstaat Texas keinen Job finden werdet.
Wir sind jetzt etwas in den College Football abgedriftet. Mich interessiert nun aber zunächst, wie Du im Sportjournalismus gelandet bist, Mike.
Ich habe an der Washington State University Kommunikation studiert und wollte eigentlich TV-Journalismus machen. Mir wurde aber schnell klar gemacht, dass sich dafür mein Aussehen ändern müsste, also meine Frisur oder wie ich gekleidet bin. Ich wollte mir nicht die Haare schneiden, also habe ich mich in Richtung Schreiben orientiert.
Wie hast Du als Schreiber dann in der Industrie Fuß gefasst?
Ich fing als Redakteur bei der Studentenzeitung an. Zu der Zeit merkte ich zum ersten Mal, dass Talent alleine nicht ausreicht, um einen Job zu bekommen. Ich habe die Stelle nicht nur bekommen weil ich schreiben konnte, sondern weil einer meiner Professoren für mich bei einem Verantwortlichen der Moscow-Pullman Daily News (Anm.: Zeitung für Idaho und Washington) ein gutes Wort einlegte. So durfte ich dann über Kunst und Unterhaltung schreiben. Das war zwar kein Sport, aber ein Fuß in der Tür. 2017 wechselte ich zum Seattle Post-Intelligencer und ein Jahr später zu The Athletic. Und hier sind wir jetzt.
Das Thema „Du selbst sein“ haben wir bereits gestreift. Welche Hindernisse musstest Du auf Deinem Weg zum Beat Writer für die Seahawks bei The Athletic überwinden? Ich erinnere mich, dass Du ein paar mal davon berichtet hast, mit den Griffin-Zwillingen verwechselt worden zu sein.
Ja, das passiert. Und ich kann das irgendwo auch verstehen. Aber in der Berufswelt – niemand möchte zugeben, dass das heute noch so ist – gibt es diese Annahme, dass Schwarze in Bereichen, die gute Bildung erfordern, nicht erfolgreich sein können. Wenn ich erzählen würde, dass ich Sportler bin oder Feuerwehrmann, würde das niemanden überraschen. Aber wenn ich behaupten würde, dass ich Professor oder Autor bin, würde das Leute aus der Fassung bringen. Anderes Beispiel: Mach die Augen zu und stelle dir einen Journalisten vor. Du hast keine Schwarze Person im Kopf. Vermutlich auch keine Frau. Wahrscheinlich einen weißen Mann. Und so geht das mit vielen Berufen. Trainer, Genie, Lehrer. Du machst das nicht, weil du ein schlechter Mensch bist, sondern weil du unbewusste Vorurteile hast. Und im Sportjournalismus ist es eben so, dass das Talent eines Schwarzen Mannes ist, so auszusehen wie die Spieler. Nicht dass du tolle Interviews führen oder gut schreiben kannst. Dabei gibt es ja auch weiße Quarterbacks, denen ich nicht ähnlich sehe – von denen ich aber trotzdem erzählen und deren Spiel ich analysieren kann.
Wie haben sich diese Vorurteile auf Deine Arbeit ausgewirkt?
Nach einer Weile nahmen sie ab, zumindest in meiner Gegenwart. Irgendwann merkten die Leute zum Glück: Der kann schreiben. Der kann im Radio auftreten. Der kann einen Podcast machen. Aber das hing auch immer vom Umfeld ab. In Idaho mochte der Trainer die Medien generell nicht. In Seattle, als ich einmal beim Seahawks-Training war, ich weiß nicht mehr ob für den PI oder The Athletic, kam einer der PR-Mitarbeiter des Teams auf mich zu und sagte: „Ich habe gehört, du bist der Neue.“ Und dann sagte er etwas wie: Versau’s nicht. Eine komische Bemerkung, denn wir kannten uns nicht. Warum nicht einfach gratulieren und alles Gute wünschen? Das fühlte sich an wie eine Warnung. Als ob ich von Natur aus nicht bereit sei für diese Aufgabe.
Ich möchte Dir einen Auszug aus einem Text vorlesen. Sie lautet: „Ich repräsentiere nicht nur mich selbst und meine Familie bei diesen Veranstaltungen. Ich vertrete auch diejenigen, die so aussehen wie ich und in meiner Stadt aufwuchsen. Die jahrelang konditioniert wurden, dass der einzige Platz bei einer Sportveranstaltung für sie der als Athlet sein könne.“ Diese Passage stammt aus Deinem Begrüßungstext, als Du bei The Athletic anfingst. Ich halte diese Zeilen für sehr kraftvolle Sätze. Mir haben sie geholfen, die größeren Zusammenhänge besser zu verstehen. Die Sportmedienwelt ist ein extrem weißes Geschäft, während beispielsweise auf dem Footballfeld primär Schwarze Athleten stehen. Diese Dysbalance fällt sehr stark auf – und sie ist mit Blick auf die Einstiegsfrage auch nicht aus dem Nichts entstanden.
Es ist kein Zufall, dass ich zu einem Spiel der Seahawks oder Mariners oder Huskies gehen kann und die Leute aus meiner Kindheit die sind, die dort die Sandwiches machen oder mir die Tür zum Aufzug aufhalten. Im ersten Jahr als Seahawks-Reporter kam ich fälschlicherweise nicht durch den Presseeingang in der Garage ins Stadion, sondern durch den Haupteingang. Mit einer der Frauen am Einlass war ich zur Schule gegangen. Und dann komme ich oben auf der Presstribüne an und sehe links und rechts nur Weiße. Und das lässt sich auf viele Berufe adaptieren. Wir können uns sogar den Sport selbst anschauen. Wem gehören die Teams? Und wer spielt für die Teams? P. Diddy wollte 2018 die Carolina Panthers kaufen, als sie zum Verkauf standen. Am Ende platzte der Kauf, aber nicht weil ihm das Geld fehlte, sondern weil die Besitzer ihn einfach nicht in ihren Country Club lassen würden.
Teil 2 des Gesprächs mit Mike erscheint in einer Sonderausgabe am kommenden Mittwoch. Darin geht es unter anderem um Konzepte zur Beseitigung von Ungleichheit und den Umgang der Seahawks mit Black Lives Matter.
Link der Woche
Der ranNFL-Netman Christoph “Icke” Dommisch war in dieser Woche beim NFL Boulevard der Footballerei zu Gast und erzählt von Minute 13:50 bis ungefähr 17:10 die ein oder andere Anekdote von seinem Besuch in Seattle bei den Seahawks. Ich erinnere mich noch ganz gut, wie Icke vor einigen Jahren in der Lederhose vor Pete Carroll und Russell Wilson stand und ich das nicht besonders toll fand. Meiner Meinung nach war das zu viel Klamauk und warf ein schlechtes Licht auf den Journalismus aus Deutschland, der sich scheinbar nicht mit Inhalten durchsetzen konnte. Das habe ich ihm damals auch gesagt. Icke vertrat die Meinung, die er auch im Podcast kundtut. Ernsthaft darüber ausgetauscht haben wir uns nach dem Twitter-Dialog damals aber nicht mehr. Agree to disagree, schätze ich.
Das Two-Minute Warning
Edda, siehst du am Horizont einen Free-Agency-Kracher für die Seahawks?
Das war’s für diese Woche. Einmal mehr habe ich mir selbst bewiesen, dass ich ein grauenhaftes Platzmanagement habe. Das komplette Dugar-Interview hätte den Newsletter wohl gesprengt, weshalb ich den Rest nun ausgelagert habe in eine Sonderausgabe kommende Woche. Wenn’s euch dennoch gefallen hat, würde ich mich über ein Abo freuen.
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SEAlosophische Grüße
Max
TOP! :)