SEAlosophie für Zurückschauende (3)
Über die Seahawks-Momente des Jahres 2020 und meine Masterarbeit.
Liebe SEAlosophinnen, liebe SEAlosophen,
die Seattle Seahawks haben erstmals seit 2016 wieder die NFC West gewonnen. Ich hoffe, das hat euch die in diesem Jahr etwas andere Weihnachtszeit etwas versüßt.
2020 war trotz erneutem Playoff-Aus im Januar ein gutes Jahr für die Seahawks. Endlich (das klingt unglaublich verwöhnt) mal wieder ein Playoff-Sieg, nachdem es 2017 und 2018 ziemlich still geworden war. Ein kaum für möglich gehaltener Philosophie-(Teil-)Umschwung in der darauffolgenden Saison. Dann begeisternde Offensive kombiniert mit verheerender Defensive. Und dann strauchelnde Offensive kombiniert mit begeisternder Defensive.
Diese Newsletter-Ausgabe ist noch kein Ausblick aufs kommende Jahr. Aber drei gleichzeitig begeisternde Mannschaftsteile in den Playoffs wären Garant für einen erfolgreichen Start in 2021.
Für mich persönlich war 2020 ebenfalls ein gutes Jahr. Nach Leipzig umgezogen. Hund adoptiert. Neuen Job angefangen. Projekte geplant (dazu nächste Woche mehr). Andere Ecken von Deutschland erkundet. Gesund geblieben. Ich bin dankbar, dass die Pandemie für mich bislang keine negative Konsequenzen hatte. Gleichzeitig ist mir bewusst, dass viele Menschen nicht so viel Glück hatten. Für sie alle hoffe ich auf ein besseres neues Jahr. Vielleicht kann dieser Newsletter dazu 2021 einen kleinen Teil beitragen.
I. Momente 2020
Vergangene Woche habe ich euch gefragt, an welche Augenblicke des Jahres ihr euch in Bezug auf die Seahawks besonders erinnert. Vielen Dank für eure Zuschriften. An dieser Stelle folgt nun meine – sich in einigen Bereichen mit euren deckende – Auflistung ohne Anspruch auf Vollständigkeit. Ich habe der Länge halber pro Monat nur jeweils ein prägendes Ereignis herausgesucht.
Januar: Déjà-vu in der Postseason
Wieder scheitern die Seattle Seahawks in den Playoffs primär an sich selbst. Wieder wachen sie erst nach der Pause auf. Wieder geben sie viel zu spät ihrem Elite-Quarterback die volle Kontrolle, um das Spiel noch zu drehen. Der 12. Januar 2020, der Tag, an dem die Seahawks bei den Green Bay Packers aus den Playoffs ausschieden, ist in vielerlei Hinsicht eine Kopie des 5. Januar 2019, als Seattle sich bei den Dallas Cowboys aus der K.-o.-Runde verabschiedete.
Februar: Seattle sucht den Superstar
“We all want superstars. We all want great players. I think Pete (Carroll) would say the same thing.” Diese Sätze sagt General Manager John Schneider beim NFL Scouting Combine, als er auf die folgenden Aussagen Russell Wilsons angesprochen wird:
“I think we need a couple more (players). I think we need a couple more. (Defensive end) Jadeveon (Clowney) is a big-time guy that we would love to get back on our football team. He was so good in the locker room. He brought so many just havoc plays to the field. Hopefully, we can get a few other players there on the defense. Then also on offense, we have a great offense, but I think we can always add more pieces. I think that’s going to be the part that’s going to be great with (general manager) John Schneider and (coach) Pete (Carroll), as well, in terms of this offseason’s free agency. Free agency is very, very key to getting those superstars on your team and try to get great players that can fill the space.”
Statt Jadeveon Clowney, Everson Griffen und Antonio Brown heißen die Neuzugänge am Ende unter anderem Greg Olsen, D.J. Reed, Brandon Shell, Bruce Irvin und Benson Mayowa. Die Kritik der Fans lässt natürlich nicht lange auf sich warten. Während Olsen auch jetzt noch zu teuer ist, haben sich besonders Reed und Shell zu echten Steals entwickelt.
März: Heute gesund, morgen tot
Buddy Baker, der Agent von Shaquill und Shaquem Griffin sowie Doug Baldwin, verliert innerhalb weniger Stunden beide Eltern. Sie hatten sich mit dem Coronavirus infiziert. In seiner Videobotschaft wirbt er Ende März für Empathie:
April: Die Seahawks-Familie trauert um Tarvaris Jackson
Tarvaris Jackson (36) kommt bei einem Autounfall ums Leben. Er hinterlässt seine Frau und drei Kinder. Jackson war in der Saison 2011 Starting-Quarterback bei den Seahawks, bevor Russell Wilsons Ära begann. Von 2013 bis 2015 kehrte er als Backup zurück. Als Stammspieler machte Jackson für Seattle 2011 trotz angerissenen Brustmuskels 15 Spiele von Beginn an (271/450, 3.091 Yards, 14 Touchdowns, 13 Interceptions). 2013 war er der erste Backup seit 13 Jahren, der im Super Bowl zum Einsatz kam. Ein Vorwurf häuslicher Gewalt wurde im Sommer 2016 nach Jacksons vorübergehender Festnahme nicht weiter verfolgt. 2018 arbeitete er als Assistent an seiner Alma Mater, Alabama State. Ein Jahr später wurde er an der Tennessee State University zum Quarterback-Trainer ernannt.
Mai: Der Fall der vielen Wendungen
Es ist einer der kuriosesten und undurchsichtigsten Kriminalfälle der jüngeren NFL-Geschichte. Das Miramar Police Department in Florida spricht am 14. Mai einen Haftbefehl gegen DeAndre Baker und Quinton Dunbar aus. Den zwei Spielern wird mehrfacher bewaffneter Raubüberfall vorgeworfen, Baker zusätzlich schwere Körperverletzung in vier Fällen. TMZ berichtet als erstes über die Sache. Es folgen Monate, in denen immer wieder unvorhersehbare Wendungen dem Fall eine komplett neue Richtung geben. Bestechung, korrupte Anwälte, falsche Zeugenaussagen unter Eid – alles ist dabei. Am Ende wird die Anklage gegen beide Spieler fallengelassen.
Juni: Ein Statement der Seattle Seahawks
Nach Tagen der Unruhen und Proteste im Zusammenhang mit dem gewaltsamen Tod George Floyds melden sich die Seahawks zu Wort. Ihr Statement lässt länger auf sich warten, denn basiert auf den intensiven Diskussionen und abgesprochenen Handlungen des Teams. Besonders Head Coach Pete Carroll spricht anschließend häufig öffentlich über Black Lives Matter und bereut, Colin Kaepernick in Seattle keine Chance gegeben zu haben. Dass er das heute noch nachholen könnte, scheint ihn aber trotzdem nicht zu interessieren.
Juli: Die Seahawks verpflichten endlich einen Pass Rusher
Er ist nur nicht in der Defensive Line zu Hause. Jamal Adams wechselt für zwei Erstrundenpicks von den New York Jets zu den Seahawks. Seattle bindet damit einen All-Pro ans Team und sich eine große finanzielle Last ans Bein. Kurz vor dem Jahreswechsel hat Adams zwei gebrochene Finger, führt seine Mannschaft mit 9,5 Sacks an und begeistert mit eloquenten Auftritten wie furioser Leistung. Kurzfristig scheint (oder muss) großer Erfolg möglich zu sein. Langfristig könnte die Gehaltsobergrenze (oder das Wirtschaften der Verantwortlichen) diesen in Gefahr bringen.
August: Always Protect the Team
Unter strengsten Covid-19-Auflagen starten auch die Seahawks in die Saisonvorbereitung. Der Pacific Northwest ist eine der vom Virus am härtesten getroffenen Regionen. Wie ernst die Lage ist, scheint aber wohl nicht bis zu Rookie-Cornerback Kemah Siverand – einem Undrafted Free Agent – durchgedrungen zu sein. Beim Versuch, eine Frau verkleidet als Spieler in sein Hotelzimmer zu schmuggeln, wird er vom Sicherheitspersonal erwischt – und daraufhin vom Team entlassen. Die harte Linie zeigt Erfolg. Bis Jahresende sind die Seahawks das einzige NFL-Team, das noch keinen einzigen Corona-Fall unter seinen Spielern hatte.
September: Vom Kochen und Verkleckern
Während Russell Wilson in den ersten Wochen der NFL-Saison eine atemberaubende Kochshow abzieht und seine Offensive in Frühform ist, benimmt sich die Defensive wie das bockige Kind, dass das mühsam über Stunden zubereitete Essen wieder ausspuckt oder garnicht erst in den Mund nimmt. Warum die Seahawks trotzdem gewinnen? Weil die Receiver es sich schmecken lassen – mit 14 Touchdown-Fängen in den drei September-Spielen.
Oktober: Die Jagd
Es ist die schönste, krasseste, unfassbarste Aktion des Jahres und ein Moment, der gewiss ganz weit vorne dabei ist in der Geschichte der Seahawks.
November: Russell Wilson sucht sich, die Defense findet sich
Während die Defensive ihr fast schon legendäres Accountability Meeting abhält, wird Russell WilsON schleichend zu Russell WilsOFF. Der Quarterback versucht, den tiefen Pass zu erzwingen, mit dem er die Seahawks durch die ersten Wochen der Saison gepowert hat. Er wirft so viele Interceptions wie noch nie in seiner NFL-Karriere. Warum? Im Oktober hatte er sich die Wortmarke “Let Russ Cook” markenrechtlich gesichert – und damit sein eigenes Unheil herbeigeführt. Jetzt scheint die Alternative zur Kochshow zu fehlen und Wilson das Spiel nicht mehr aus der Hand geben zu wollen. Doch er muss sich helfen lassen.
Dezember: Schlechtes eliminieren, Gutes zusammenfügen
Die Seattle Seahawks sind nach drei Jahren Pause wieder an der Spitze der umkämpften NFC West angekommen. Die Partie gegen die Los Angeles Rams wird zum Schlüsselerlebnis. Aus der Defensive, die alle Negativrekorde zu pulverisieren drohte, ist eine Einheit geworden, die mit den Besten der Liga mithalten kann. Die Offensive kämpft sich fern des Spektakels langsam zurück zur Form der ersten Wochen, ohne dabei zu stur auf die von Gegnern nun erwarteten tiefe Pässe zu setzen. Und die Special Teams halten ihr fantastisches Niveau. Randnotiz: Die Rookie-Klasse 2020 – besonders Linebacker Jordyn Brooks und Right Guard Damien Lewis – trägt einen nicht zu unterschätzenden Teil dazu bei.
II. Black Lives Matter
Kein Thema hat mich in diesem Jahr so sehr bewegt wie dieses. Nicht nur weil es im American Football so präsent war, sondern auch weil es mich dazu gebracht hat, mein eigenes Handeln grundlegend zu hinterfragen. Vergangene Woche habe ich in der Einleitung von SEAlosophie das Buch von Alice Hasters mit dem Titel “Was weiße Menschen nicht über Rassismus hören wollen aber wissen sollten” verlinkt, das ich aktuell als Hörbuch höre.
Hasters ging wie ich an die Deutsche Journalistenschule (DJS). Doch im Gegensatz zu mir, einem weißen Mann, gehörte sie, eine schwarze Frau, dort zur Minderheit. Noch heute ist unsere Medienlandschaft nicht divers genug, repräsentiert nicht alle Bildungsschichten, Ethnien, Geschlechter gleichwertig und handelt in den meisten Fällen nach den Vorstellungen weißer Männern in Machtpositionen.
“Wer Rassismus bekämpfen will, muss Veränderung befürworten – und die fängt bei einem selbst an.”
Dieses Buch ist unangenehm – das soll es auch sein. Es hält mir den Spiegel vor. Während ich den Worten lausche, schweife ich in meiner Vergangenheit und realisiere, wie ich mich manchmal falsch verhalten habe.
Ich habe meine Ausbildung an der Journalistenschule 2018 beendet. Weil der Abschluss aus einem Studium an der Ludwig-Maximilians-Universität München und der DJS-Ausbildung bestand, durfte ich am Ende der zwei Jahre eine Masterarbeit schreiben.
Ich wählte als Thema den Diskurs – also: Wie wird über ein Thema diskutiert? – American Football in deutschen Printmedien. An dieser Stelle möchte ich die Ergebnisse meiner Arbeit aufgreifen, weil sie ganz gut in den Themenkomplex Black Lives Matter hineinpassen.
Eine der Erkenntnisse meiner Untersuchung war damals, dass über schwarze Spieler seltener in positiven Zusammenhängen berichtet wurde als über weiße.
“Zwei Drittel der Spieler in der NFL sind schwarz (vgl. Kapitel 2.3). Man könnte also zunächst davon ausgehen, dass die Berichterstattung hierzulande dies widerspiegelt. Doch die Annahme, dass in den deutschen Printmedien in proportionaler Häufigkeit über Spieler bestimmter Hautfarbe berichtet wird, ist falsch. Primär wird über weiße Sportler geschrieben. Das mag zum einen damit zusammenhängen, dass 80 Prozent der Quarterbacks, über die am häufigsten berichtet wird, weiß sind, zum anderen damit, dass Deutsche, über die in ähnlich hoher Frequenz berichtet wird, meist ebenfalls weiß sind. Wird doch über schwarze Athleten berichtet, dann aus zwei Gründen. Entweder sind die Spieler auf der Position des Quarterbacks aktiv (Russell Wilson, Colin Kaepernick, Cam Newton, Robert Griffin, Michael Vick) oder aber abseits des sportlichen Geschehens durch kriminelles Verhalten auffällig geworden (Ray Rice, Adrian Peterson, Jovan Belcher, Ray Lewis).”
Mit dem Erscheinen Donald Trumps auf der präsidialen Bildfläche wandelte sich das ein wenig. Politik spielte plötzlich eine große Rolle in der deutschen Berichterstattung. Es existierte nun eine zweite Erzählweise neben der der Gladiatoren: die der Aktivisten. Footballer wandelten sich von negativen zu positiven Figuren. Die Selbstzerstörerischen und Kriminellen wichen den politisch Engagierten gewichen, weil in Person von Donald Trump ein größeres Feindbild aufgetaucht war.
Wer sich die ganze Masterarbeit zu Gemüte führen will, darf sich gerne direkt bei mir melden. Und wer sich für kleines Geld (4,50 Euro) das Buch von Alice Hasters holen will, findet es inzwischen auch bei der Bundeszentrale für politische Bildung.
Die Zahlen der Woche
Bei 7 Prozent liegt laut New York Times die Wahrscheinlichkeit, dass die Seahawks nach Week 17 auf Seed 1 der NFC stehen und mit einer Bye Week in die Playoffs starten. Was dafür passieren muss? Die Green Bay Packers müssen den Chicago Bears unterliegen, die New Orleans Saints den Carolina Panthers. Und Seattle muss die San Francisco 49ers besiegen – in Glendale, Arizona.
In Glendale? Da kann doch etwas nicht stimmen. Doch, doch – das ist schon richtig. Weil in Santa Clara County an diesem Tag 760 neue Infektionen und 239 Krankenhaus-Einlieferungen mit Covid-19 festgestellt wurden, untersagte der Landkreis am 28. November kurzerhand alle Arten von Mannschaftssport. Und weil dieses Verbot bislang nicht aufgehoben wurde, müssen die 49ers auch in Week 17 nach Glendale ausweichen, ins Heimstadion der Arizona Cardinals.
Gefühlt 2 Millimeter fehlten Tight End Jacob Hollister vor einem Jahr zum Touchdown gegen die 49ers und damit den Seahawks zum NFC-West-Titel. Ein Jahr später ist es gerade Hollister, der mit seinem Touchdown-Fang gegen die Los Angeles Rams die Division klargemacht hat.
Der Link der Woche
Zwischen den Jahren nehme ich mir immer ein bisschen Zeit, Videos und Filme zu schauen, die ich schon längere Zeit auf meiner viel zu lang gewordenen Liste stehen habe. Der ehemalige NFL-Linebacker Emmanuel Acho hat in diesem Jahr eine unbequeme Unterhaltung mit dem weißen Amerika begonnen. Alle Episoden, darunter Gespräche mit NFL-Chef Roger Goodell, Schauspieler Matthew McConaughey und einer Gruppe Polizisten, gibt es auf Achos YouTube-Kanal.
Das Two-Minute Warning
Was macht eigentlich… Kam Chancellor?
Kein Seahawk ist bei den Spielern der San Francisco 49ers (insbesondere bei Vernon Davis) wohl so gefürchtet wie Kam Chancellor. Inzwischen verteilt er aber keine harten Hits mehr auf dem Spielfeld, sondern in den sozialen Medien motivierende Worte an seine Nachfolger von heute und morgen. Wenn er nicht twittert oder auf dem VMAC-Gelände seine Expertise weitergibt, rennradelt er vermutlich gerade mit den Ex-Kollegen Justin Britt, DeShawn Shead, Mike Morgan und Cliff Avril durch die Nachbarschaften, Wälder und Landschaften des Pacific Northwest.
In Seattle ist in den vergangenen Jahren etwas entstanden, das weit über die Kameradschaft auf dem Spielfeld hinausgeht. Das ist vielleicht mit die größte Leistung von Pete Carroll.
Wer hat das gesagt?
“You just believe in it. You shoot it. You let it ride.”
Auflösung vom 23.12.2020: Defensive Back D.J. Reed erklärte vergangene Woche, dass er “einfach so” wütend war, diesen unbegründeten Groll mit ins Spiel nahm und sich so zu Glanzleistungen anspornte. Michael Jordan, Meister der Selbstmotivation, wird stolz auf ihn sein.
Edda, wie verarbeitest du die Kombination aus Football, Futter und Feiertagen?
Das war’s mit der SEAlosophie.
Fürs Jahr 2020. Danke, dass ihr mich in diesem Newsletter begleitet. Ich schreibe zwar noch immer viel zu langsam, um dieses Projekt als Nebenher-Ding laufen zu lassen. Doch man merkt den SEAlosophie-Ausgaben hoffentlich an, dass mir das Schreiben Spaß macht und ich deshalb nicht so schnell damit aufhören will.
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SEAlosophische Grüße
Max