Liebe SEAlosophinnen, liebe SEAlosophen,
Gameday Morning mochte ich schon immer. Ich erinnere mich, wie ich 2013 in Oregon am Sonntagmorgen um kurz vor 10 durchs nach langer Partynacht noch schlafende Eugene geradelt bin, um mit einem Freund die frühen Spiele der Seahawks zu schauen. Ein Hauch von Gras lag in der Luft des Studentenstädtchens. Ihr wisst, welches ich meine. Football zum Frühstück war speziell, fast ein Ritual. Zurück in Deutschland ist der Sport zwar eher eine Beilage zum Abendessen, aber vielleicht kann ich in diesem Newsletter in Zukunft ein wenig vom Gefühl der Vorfreude vermitteln, mit dem ich damals während meines Auslandssemesters in den USA für Footballspiele aus dem Bett und aufs Fahrrad gestiegen bin.
Kurz in eigener Sache: Das Buch, das ich mit Christian “Detti” Detterbeck von der Footballerei über die Seahawks geschrieben habe, ist ab sofort im Handel erhältlich. Es fühlt sich wirklich gut an, das Ergebnis dieses Projekts in den Händen zu halten. Hier könnt ihr es vorbestellen. Vielleicht werde ich in den kommenden Wochen ab und zu ein paar Sequenzen aus dem Buch veröffentlichen. Bis dahin findet ihr hier eine Leseprobe. Drüben auf Twitter habe ich am Donnerstag einen längeren Danke-Thread veröffentlicht, der mir wichtig ist. Jetzt bin ich gespannt auf Feedback und Reaktionen – ich kann überhaupt nicht einschätzen, wie das Buch ankommen wird.
Und damit nun rein in die neue Saison!
I. Da waren’s nur noch zwei
Es war abzusehen, dass diese Zeilen irgendwann in diesem Jahr kommen würden, deswegen habe ich sie während der Offseason in meinem Kopf bereits ein wenig vorformuliert. Die Seahawks ziehen weiter. K.J. Wright zieht weiter. Zwei Super-Bowl-Sieger (Wilson und Wagner) verbleiben im Kader. Das deutete sich an – zuerst mit der frühen Draft-Verpflichtung von Jordyn Brooks 2020. Dann mit der Umschulung von Darrell Taylor (Zweitrundenpick NFL Draft 2020) zum halben Linebacker in der Vorbereitung. Auch immer wieder mit dem Fokus der Seahawks auf die Nickel-Formation (zwei Linebackern, fünf Defensive Backs) und der Qual der Wahl bei zwei überdurchschnittlichen Slot-Cornerbacks. Und dann final, als die Positionsgruppe in der Vorbereitung aufgrund von Verletzungen dünn besetzt war. Seattle hätte schon vor dem Ausfall von Ben Burr-Kirven die Wright-Rückholaktion starten können, entschied sich aber dagegen.
Die Verantwortlichen wollten von Anfang an das klare Signal setzen, dass sie mit Erstrundenpick Jordyn Brooks planen. Es ging ihnen nie um Wrights Preis. Zugegeben, ich dachte nicht, dass er für “nur” 5 Millionen US-Dollar noch einmal irgendwo unterschreibt. Jetzt war er vergangene Woche bei einer Pressekonferenz der Las Vegas Raiders in Schwarz-Silber zu sehen und ich muss sagen: Das sieht irgendwie falsch aus. Aber gut für die Raiders: Sie haben einen extrem spielintelligenten Mann verpflichtet, der eine absolute Bereicherung für den Locker Room ist.
Wenn ich an den Spieler K.J. Wright zurückdenke, dann fällt es mir schwer, eine spezifische Szene zu benennen, die ihn unvergessen macht. Wright überzeugte durch etwas, das nicht auf den ersten Blick sichtbar ist, weil es nicht unbedingt spektakulär aussieht. Er war Spielzug für Spielzug da, wo er sein musste – und deswegen weder in den Highlight-Videos der Seahawks noch in eher unglücklicher Rolle in denen der Gegner zu finden. Niemand erschnüffelte bei den Seahawks Screen-Plays so instinktiv wie er. Die NFL war schon immer eine Liga, die die Stimmen der Lauten verstärkt und damit die derer in den Hintergrund drängt, die ihre Leistung konstant im Stillen bringen.
Als Wright 2011 als Viertrundenpick nach Seattle kam, sah ihn wohl niemand sofort als Starter. Zwei Jahre zuvor hatten die Seahawks mit dem 10. Pick im NFL Draft Aaron Curry ausgewählt, der damals als bester Linebacker in der Talentauswahl gegolten hatte. Dass er anschließend häufig als Bust abgestempelt wurde, liegt zum einen daran, dass er auf Profilevel nie die hohen Erwartungen an seine Person erfüllte, zum anderen aber an einem Rookie, der ihm nach zwei Spieltagen in der Saison 2011 den Stammplatz entriss.
In den Folgejahren lieferte Wright oft Pro-Bowl-würdige Spielzeiten ab, wechselte ohne Leistungsabfall zwischen Strongside und Weakside hin und her, kämpfte sich durch ein verletzungsgeplagtes 2018 und spielte vergangene Saison vielleicht so gut wie nur selten zuvor in seiner Karriere. Ich hoffe, dass er eines Tages als Seahawk seine Karriere beendet und wünsche ihm, dass er diese Entscheidung ohne Einfluss von größeren Verletzungen frei treffen kann.
II. Dresscode
Die Trikot-Kombinationen der Seahawks für die Saison hat die Marketingabteilung der Franchise gewiss schon festgelegt. Ich bin wirklich nicht abergläubisch, aber die folgende wissenschaftlich akkurate und repräsentative Darstellung der Records nach Trikotfarbe seit dem Nike-Rebranding 2012 (die mich viele Stunden gekostet hat und vermutlich völlig sinnfrei ist) müsste doch Grund genug sein, die Kombis anzupassen. Stichworte: Leistungsoptimierung, die paar entscheidenden Prozente rausholen, Analytics und so!!!
Handlungsempfehlung: Weiß-Grau zur Altkleidersammlung und ab sofort nur noch in Grün spielen.
III. Kickoff in Indy
Heute geht sie für die Seahawks los, die neue NFL-Saison. Ist es die letzte von Pete Carroll, John Schneider und Russell Wilson unter dem selben Stadiondach? Nach anfänglichem Drama verliefen Offseason und Preseason fast schon zu ruhig. Lassen wir uns bitte nicht einreden, dass die Vertragsthemen um Jamal Adams, Duane Brown und Quandre Diggs irgendeine Brisanz mit sich brachten. Alle drei Spieler verhielten sich fair – und die Seahawks arbeiteten ihre To-Do-Liste behutsam ab.
Doch die eingangs erwähnte Frage wird bleiben. Nur der Erfolg, der Super-Bowl-Titel, wird sie aus den Köpfen der Beteiligten und Außenstehenden löschen und die Zusammenarbeit der drei Hauptdarsteller festigen. Bleibt er aus, stehen wir in ein paar Monaten vielleicht vorm großen Umbruch.
Und nun zum Spiel. Worauf ich beim Saisonauftakt gegen die Indianapolis Colts achten werde:
Wundertüte Seahawks: Von den Stammspielern sahen wir in der Preseason wenig bis nichts. Das war vor allem in Bezug auf die neue Offensive unter Coordinator Shane Waldron ein wenig überraschend, denn die Starter konnten dadurch nicht den Ernstfall proben. Immerhin fällt es so den Colts schwerer, sich auf Seattle vorzubereiten. Was wir wissen: Wir dürfen 2021 mehr Tempo erwarten, wie ungefähr jeder Spieler mindestens einmal gegenüber der Presse erwähnte. Was ich mir wünsche: Lösungen fürs Kurzpassspiel über die Mitte, die Russell Wilson helfen. Mehr versteckte Formationen und Bewegung vor dem Snap für weniger Vorhersehbarkeit. Schnellere Anpassungen, wenn Plan A nicht mehr funktioniert. Dann klappt’s auch mit den MVP-Stimmen für Wilson. Mal sehen, ob’s damit ohne Generalprobe und trotz früher Uhrzeit schon was wird am Sonntag. Startschwierigkeiten sind bei den Seahawks bekanntlich nie ganz auszuschließen – in Week 1 erst recht nicht.
Ein nicht überragender Quarterback hinter einer guten Offensive Line gegen eine Defensive Line mit Fragezeichen: Wird Colts-Spielmacher Carson Wentz hinter Guard Quenton Nelson und Co. der neue Jared Goff? Ich wage es zu bezweifeln, da ihm dazu Seahawks-Kryptonit Sean McVay fehlt (sorry, Frank Reich). Aber sobald der Druck auf ihn ausbleibt, wird auch Wentz zum Goff’schen Gunslinger. Was mich positiv stimmt: Wentz hat von vier Spielen gegen die Seahawks (alle mit den Philadelphia Eagles) keins gewonnen. Im letzten Aufeinandertreffen knockte Jadeveon Clowney ihn bereits nach neun Snaps aus. Seattles Pass Rush sehe ich positiver als viele Experten. Die Tiefe gefällt mir - und wie wertvoll eine gute Rotation ist, haben wir 2013 und 2014 gesehen. Es muss nicht von vornherein eine klare Nummer eins unter den Quarterback-Jägern geben.
Cornerback-Check: D.J. Reed und Tre Flowers heißen die Starter auf den Außenbahnen. Die Seahawks-Verantwortlichen scheinen sich bei beiden so sicher zu sein, dass sie sogar die dritte Option, Ahkello Witherspoon, noch vor dem Saisonstart zu den Pittsburgh Steelers tradeten. Rookie Tre Brown fehlt zunächst verletzt. Sidney Jones bleibt Backup – aber einer mit Potenzial, wenn er seine positive Entwicklung fortsetzt. Doch reicht das für eine stabile Passverteidigung? Glaube ich nicht, denn insbesondere Flowers zeigt weiterhin Schwächen, wenn’s darum geht, den Ball zu spielen. Ich hätte mir noch einen Veteran wie Richard Sherman gewünscht, doch mir ist bewusst, dass der aktuell vielleicht andere Prioritäten im Leben hat, beispielsweise seine mentale Gesundheit. Was mir Hoffnung gibt: Jamal Adams wird der Secondary 2021 mehr Stabilität verleihen, da bin ich sicher. Die Trainer wissen besser, wie sie ihn einsetzen können, er kennt seine Aufgaben im System besser und die Spieler sind in Sachen Kommunikation besser abgestimmt.
Der Link der Woche
Hier kommt eure letzte Chance, das Saisonvorschau-Magazin abzuchecken, das ich mit den Kollegen bei den German Sea Hawkers vor der Spielzeit 2021 produziert habe. Dort findet ihr alles rund um die Seattle Seahawks vor der neuen Runde, viele bunte Fotos, einen Ausschnitt aus meinem Buch und haufenweise gute Texte. Unterstützt diese Redaktion mit einem Download, denn sie leistet tolle Arbeit!
Ganz knapp dahinter: Der deutsche Linebacker Aaron Donkor war beim letzten Preseason-Spiel der Seahawks verkabelt. Ob er seinen Mitspielern davon erzählt hat?
Das Two-Minute Warning
Was machen eigentlich die Preseason-Legenden der Seahawks, Kasen Williams und Troymaine Pope?
Zur Feier des Preseason-Endes möchte ich dieses Thema kurz aufgreifen. Ihr erinnert euch vielleich an Wide Receiver Kasen Williams und Running Back Troymaine Pope. Ex-Washington-Husky Williams kämpfte zwischen 2015 und 2017 um einen Kaderplatz bei den Seahawks und lieferte in Preseason und Camp immer ordentlich ab. Seine einhändigen Catches sind mir heute noch im Gedächtnis. Pope rannte 2016 in der Preseason wie aus einer Kanone geschossen über Freund und Feind hinweg. Zur Überraschung und zum großen Ärger vieler Fans und Experten überstanden aber beide die Roster Cuts nicht – und schafften auch andernorts nie den Durchbruch. Williams war seit 2018 nicht mehr in der NFL zu sehen. Sein Comeback-Versuch bei den Seattle Dragons in der XFL wurde zuerst von einer Verletzung und dann Covid-19 durchkreuzt. Pope absolvierte die Preseason 2021 bei den Tampa Bay Buccaneers, wurde dort aber im Rahmen der Roster Cuts entlassen. Was uns das sagt? Vielleicht wieder einmal, dass gute (und schlechte) Preseason-Eindrücke mit Vorsicht zu genießen sind. Vielleicht auch, dass die Seahawks damals richtig lagen mit ihrer Einschätzung der beiden Spieler.
Edda, wie sehen deine Pläne vor dem Spiel heute aus?
Mal sehen, wie es mit diesem Newsletter in den kommenden Wochen weitergeht. Ich überlege, ab und zu ein paar Gedanken zu den Seahawks direkt nach Spielende aufzuschreiben und zu verschicken, die dann entweder noch abends oder aber am nächsten Morgen bei euch im Postfach liegen. Aber lassen wir erst mal Week 1 passieren und sehen dann weiter.
Euch allen einen schönen Saisonstart heute Abend!
SEAlosophische Grüße
Max
Da die Amis doch so statistikverliebt sind, solltest Du überlegen, einen Screenshot Deiner Trikottabelle mal an John Boyle für den Mailbag zu schicken oder an die Seahawks zu twittern... (#abandon-wolfgrey ;-)